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Allein | Dezember 2015

Der Taster
von Sylvia Schmieder

Gut, dass so schlechtes Wetter ist. Es geht ihm ja viel im Kopf herum, da braucht er kein Feierabendgewimmel hier draußen, am See, der die Ruhe bewahrt. Der „innovative, flexible Geist“, die „Oberflächenmessung auf der Höhe unserer Zeit“, das hängt ihm noch quer in den Gehirnwindungen, und so schnell wird er es nicht los.
Das Wasser dämmert schon, der weiße Nebelhimmel noch nicht. Den Enten macht der feuchte Wind nichts aus, aber ihm. Das muss er endlich lernen, wenn es ungemütlich wird, geht man nach Hause, nichts einfacher als das! Wo liegt das Problem! Man sagt so schön: „mir sind die Hände gebunden“, aber er ist an Armen, Beinen, Kopf, stock und steif ist er eingeklemmt, geschraubt, gerichtet. Andere laufen frei herum, er sieht sie doch und kann sich nur wundern. Wenn sie Verständnis äußern, ist das die pure Bequemlichkeit, nein, was sie wirklich denken, möchte er gar nicht wissen!
Kollege Kurz hat ihn angestarrt, ihn offen begrinst, damals, sechste Woche bei Schafferwerke, und damit fing es an. Frau Liebig brachte die kalte Platte, die Herren vom „Ingenieur“, von der „Technikwelt“ standen praktisch schon in der Tür. Da dachte er „Tasterset Unisono“, „Blatt sechzehn mit Schraubstöcken A bis E“ und die Hände wurden zittrig. Dann dachte er: „Das kennst du.“ Wenn er noch etwas anderes hätte denken können, hätte er wieder klar gesehen und hätte die Datenblätter gefunden: graue Mappe, wäre ihm eingefallen, Matti, hast sie doch selbst, damit nichts durcheinanderkommt. Kollege Kurz war an allem schuld, sein dreister Blick, und doch ist es lächerlich, das so zu sagen, weil ja nichts weiter war, es war Normalität, nur er ist falsch hier und nicht normal, wenn er das bisschen Kampf nicht mal ertragen kann.
Der See, denkt er, spricht zwar auch vor sich hin, aber er ist doch nicht zu erreichen. Schau uns an, Mister See, mit Smartphone, Navi, Notebook, Skype haben wir die Ferne gefressen, ein Problem, das sich uns nicht mehr stellt, die Entfernung, nur Sie sind wirklich hinterm Mond, darf ich das so sagen. Sie liegen hier direkt vor mir, aber wir haben null Verbindung. Woran das liegt, mein lieber See, sollte uns das nicht Anlass sein, die Sache kurzfristig anzugehen, meine Meinung, was denken Sie ... Wie allein man hier ist, ist eigentlich unerträglich. Das Wasser rollt millimeterweise, schluckt ganz langsam, was es berührt. Aber seine Geräusche tun doch gut. Seine Farben. Seine Geräusche.
Es war damals der alte Riss, den er plötzlich wieder zu spüren begann, haarfein, aber tief hinunter. Herr Weisenfels blieb ja Herr der Lage, überspielte die Schweigesekunden und scherzte gekonnt, dass die Herren vom „Ingenieur“, von der „Technikwelt“ beinahe nichts dabei fanden. Seine Anweisungen kamen bestimmt aber locker, so musste man es machen. „Da gehen Sie jetzt mit Frau Liebig an ihren Rechner, suchen heraus, was Sie brauchen, damit es flott vorangeht, alles dreimal, Maienmann. Nur müssen wir uns ein bisschen beeilen. Aber das wissen Sie.“
„Mein Gott, wo Sie noch so am Anfang stehen ...“ lächelte Herr Kurz.
Natürlich war es übertrieben, wie ernst er diese Dinge nahm. Das wird wieder, sagte er sich. Ein Ausrutscher, nicht der Rede wert. Schwamm drüber, nach vorne schauen, ist schon vergessen, weiter im Programm.
Babs hat er es etwas anders erzählt. Alles Roger, hat er gesagt, nur meinen Humor muss ich noch trainieren, den Weisenfels, den solltest du hören, wirklich trockene Pointen. Aber sie war schon am Abstandnehmen, redete manchmal schon so: „Ich bin ein Vagabund ... Konstanz, das Kaff, kommt mir zu den Ohren raus, aber du - bist ja hier fest eingebunden!“ Dann versuchte er, es ihr zu erklären. Er durfte doch nie und nimmer gehen, Schafferwerke um jeden Preis, Schafferwerke die letzte Chance! Das klappt, das stehen wir durch! Dann hatten sie immer mehr Schweigeminuten. Er dachte damals zwar, wenn sie wirklich weggeht, wird es unerträglich. Aber ihr zu folgen, wenn sie sich entfernt, das traute er sich nicht mal zu denken, weil es nicht drin ist, Schluss, Ende, Babspatz, keine Diskussion.
Er weiß es in jeder Sekunde, sie lassen es ihn immer spüren, dass es Hunderte gäbe wie ihn, wenn er etwa nicht mehr wollen würde. Ingenieure sind rar, aber Public Relations, meine Güte! Germanisten, Journalisten, Werbefuzzis gibt’s wie Sand am Meer. Und er muss noch lernen. „Das tut man, indem man es tut, Herr Maienmann!“ Frau Liebig steht ihm nicht zur Verfügung, also schreibt er E-mails, Bestellnummern, Texte bis in die Nacht, über den Taster, diese hochsensible Diamantnadel, vergleichbar der Nadel eines Plattenspielers, wie sie noch feinste Oberflächenabweichungen registriert.
Jetzt taucht aus dem Grau ein Surfer auf, im Neoprenanzug, gelbschwarz. Man sieht nicht viel von ihm. Der Nebel weht aufs Wasser hinunter. Er hat ja wirklich Fehler gemacht. Sein größter war, mit eigenen Fehlern zu rechnen. Frau Liebig hätte er nicht bitten dürfen, soweit es ihre Zeit erlaube, die Imagebroschüre Korrektur zu lesen. Herr Weisenfels schloss daraus, er sei in der deutschen Rechtschreibung nicht ganz sattelfest. „Grundschule, junger Mann!“ Da wurde ihm bewusst, dass er so jung nun nicht mehr war, und dass Herr Weisenfels das auch so meinte. Das fuhr ihm in die Seele, mit einem Schlag.
„Die Gummiummantelung absorbiert auch mittelschwere bis schwere Stöße. Im Absenkbetrieb verhindert ein Kollisionsschutz den Crash des Tasters auf die Messstückoberfläche.“ Sie sagen: „Den kann man vergessen.“ Sie können mich vergessen, ja, aber ich Sie auch, wenn ich will! Wenn auch manches falsch ist an mir - meine Unfähigkeit zum Beispiel, in Anwesenheit von Herrn Kurz ein Telefongespräch zu führen, lächerlich - wenn ich auch nie so arbeiten und leben kann, wie man hier soll - ich weiß, dass mich das nicht kratzen muss! Es darf sich kein Mensch so einspannen lassen, so, dass er festsitzt und sie ihn fahren, so, dass ihm Hören und Sehen vergeht und ihm jeder Schlag in die Seele fährt. Herr Weisenfels, Herr Kurz, auch wenn Sie am längeren Hebel sitzen, will ich das nie mehr vergessen! Man müsste ganz anders daherkommen. Man müsste, wenn man mit ihnen spricht, das nächste Mal eine Stimme entwickeln, die den ganzen Raum füllt. Wenn das überhaupt reicht, nein, es braucht viel mehr, so schwer müsste sie sein, meine Stimme, dass sie sich auf sie legt - in der Art, wie das Wasser im See liegt. Ganz kühl, allein mit meiner Stimme, hätte ich sie dann umgelegt.
Der See ist schon eine Schönheit. Wie dicht die Nebel ihn streifen – man müsste sich in sie hängen wie in lange Kissen, das Sakko breiten, da hinten, wo sie langsam treibend über dem Wasser stehen. Nur eine Minute. Das ist doch im Rahmen, da sind Sie d´accord, Herr Weisenfels, ich bin mir ganz sicher. Die schwarzen Schuhe ins Wasser schütteln, die schwarzen Stümpfe weg, kalte Strömungen spüren, unruhige Spitzen, Gekräusel, und plötzlich strampeln, egal was passiert, einen Riesenwirbel spritzen! Auch wenn das Ihre Geduld strapaziert. Am Ende sogar brüllen! Nichts Bestimmtes, nur laut …
Irgendwann erschrak er. Ich darf nicht ausfallen, morgen! Dann lief er schnell nach Hause.

Letzte Aktualisierung: 05.12.2015 - 21.02 Uhr
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