Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
Werner Scholz analysiert den Klimawandel von Jochen Ruscheweyh
„Jetzt guck dir nur diese braune Suppe an!” Werner Scholz stand am Fenster und deutete auf die Wassermassen, die durch die Straße strömten, in der Waltraud und er seit einunddreißig Jahren lebten.
Seine Frau blickte kurz von ihrer Stickarbeit auf - das Motiv zeigte das holländische Regentenpaar Willem und Maxima vor Versailles - und bemerkte: „La rue est gris et triste.“
„Was?“
Waltraud schaute über den oberen Rand ihrer Lesebrille. „Das ist der einzige Satz, den ich noch auf Französisch kann.“
Werner überging ihre Antwort und fuhr fort: „Jetzt hat es grade die Mülltonne der Derendorfers weggespült. Ich glaube, es war eine gute Idee, dass ich den Boden unserer Tonne mit dem restlichen Zement vom Treppenfundament ausgegossen habe, sonst wär die auch schon Richtung Innenstadt getrieben.“
„Und gut, dass wir unsere Fußmatte draußen angekettet haben. Nicht nur wegen der Diebe.“
Werner schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, wo das noch hinführen soll.“
„Wie meinst du das?“, fragte Waltraud.
Werner trat vom Fenster, ging zum Sofa hinüber, kniete sich vor Waltraud und griff nach ihrer Hand. Sie entzog sie ihm einen Sekundenbruchteil später wieder mit den Worten: „Einen Moment, das ist grade eine schwierige Stelle.“
Werner nickte.
„So, jetzt habe ich den Faden gesichert. Ein falscher Stich und alles wäre zum Teufel.“
Werner griff erneut nach ihrer Hand, führte sie an seine Lippen, deutete einen Handkuss an und sagte: „Ich bewundere dich für deine Geduld.“
„Ach, das ist doch nichts!“, wischte sie seine Anmerkung mit der freien Hand weg.
„Unterschätz das nicht. Ich hab mir in meiner Karriere oft im Weg gestanden, weil ich nicht genug Geduld gehabt habe.“
„Immerhin hast du deinen Betriebswirt gemacht, nachdem sie euch Hoesch dicht gemacht haben.“
Werner schnüffelte in ihre Richtung.
„Sag mal, hast du ein neues Parfum?“
„Nein“, antwortet Waltraud, „das ist so ein Duftspender für die Steckdose. Wilde Malve.“
„Ich möchte, dass du dein Stickzeug für einen Moment zur Seite legst.“
Waltraud errötete. „Ich ... ich bin jetzt gar nicht darauf vorbereitet, aber ich könnte kurz ins Bad ...“
„Oh“, kratzte sich Werner am Kinn. „Nein, nein, ich wollte nur ... Waltraud, hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass wir unseren Lebensabend vielleicht nicht in diesem Haus verbringen können?“
„Werner! Was hast du getan? Bist du spielsüchtig?“
„Ach was. Ich kann doch sowieso nur Bauernskat. Ich meine wegen dem Klimawandel.“
Waltraud zog ihre Hand zurück und stemmte sie zusammen mit ihrer anderen in ihre Hüften, was im Sitzen ein wenig merkwürdig wirkte. „Aber ich kaufe schon die ganze Zeit im Bioladen, was soll ich denn noch tun? Das bringt uns noch an den Bettelstab!“
Werner tätschelte ihr Knie. „Da kannst weder du noch irgendjemand anders etwas zu. Genscher hat uns all die Jahre belogen. Der Dreck aus Asien legt sich auf die Berge und davon schmilzt der Schnee, der läuft in die Flüsse und irgendwann ins Meer. Von da verdunstet er wieder und regnet uns hier den Hof zu. Vereinfacht gesagt.“
„Was du dir alles merken kannst ...“
Jetzt war es Werner, der abwinkte. „Das steht meist im Feuilleton der Zeitung und wenn ich es ab und zu überfliege, dann prägt es sich eben ein. Dafür bist du immer gut informiert, wer gestorben ist und wo es Jakobs Krönung am billigsten gibt.“
Waltraud lächelte. „Das stimmt“, sagte sie und klopfte zweimal mit der flachen Hand auf das Sofa. „Komm, Fleischmann!“
Der Cockerspaniel blickte kurz auf und ließ den Kopf dann wieder auf seine Decke sinken.
„Ich bin jetzt mal ganz direkt“, begann Werner. „Es könnte sein, dass der Meeresspiegel über kurz oder lang soweit steigt, dass wir hier nicht mehr sicher sind.“
„Oh mein Gott!“, entfuhr es Waltraud, bevor sie noch einmal wiederholte: „Oh mein Gott!“
Werner stand auf, ging zur Decke und nahm Fleischmann hoch.
„Kann man denn da nichts machen? Was ist mit ... den anderen aus deinem Modelleisenbahnclub?“
Werner setzte den Hund neben Waltraud auf dem Sofa ab.
„Auf Heinz und Erich können wir in dieser Sache nicht zählen. Da muss jeder sehen, wo er bleibt.“
Der Cockerspaniel gähnte und streckte sich, bevor er vom Sofa sprang und wieder auf seine Decke zuhielt.
„Wir müssen irgendwohin, wo wir weiter über dem Meeresspiegel sind. Das ist mein voller Ernst!“, stellte Werner fest, nahm ein Stück Blauschimmelkäse von dem kleinen Dessertteller, der auf dem Tisch stand, und wedelte damit in Richtung Hundedecke. Fleischmann, wieder liegend, gähnte ein zweites Mal, drückte sich hoch und trottete Richtung Sofa. „Wie macht Napoleon?“, fragte Werner. Der Cockerspaniel hob eine Pfote und hielt sie sich dem Feldherren ähnlich vor die Brust. „Feiner Hund!“, tätschelte Werner die Flanke des Spaniels, ehe er das Käsestück freigab. „Ich hatte an das Sauerland gedacht. Westfalen und Sauerländer reiben sich zwar immer ein bisschen, aber in der Not werden sie uns sicherlich mit offenen Armen aufnehmen. Hattest du nicht diese angeschwippschwägerte Cousine in Attendorn?“, fragte Werner. Waltraud griff selbst nach einem Brocken Camembert, teilte diesen in zwei Hälften und bot eine davon Fleischmann an. Der Cockerspaniel bleckte die Zähne und schnappte nach dem Käse. „Apeldoorn“, korrigierte Waltraud. „Margot ist Holländerin.“
„Oh, das ist schlecht“, überlegte Werner, „zu tief.“
Er begann grade, den Hund unter dem Bauch zu kraulen, als dieser aufjaulte und sich auf die Seite warf.
„Was ist?“, schreckte Waltraud hoch.
„Sein Hoden ist wieder entzündet. Die Feuchtigkeit und die milde Witterung sind Gift für einen Spaniel. Die Rasse braucht einen strammen Winter und eine zünftige Eichhörnchenjagd, den Teufel kannst du ja nicht mehr jagen, den haben wir ja zusammen ausgeschaltet, was Fleischmann?“
Der Cockerspaniel kam näher und leckte die Narbe, die sich rund um Werners Handgelenk zog. „Das ist noch Chirurgie Made in Germany. Wenn sie mal mit dem Ozon und Treibhauseffekt auch schon so weit wären, dann müssten wir nicht ... hast du schon mal darüber nachgedacht, Waltraud, wenn wir hier die Flucht ergreifen, dann sind wir eine Familie mit Migrationshintergrund.“
Seine Frau goss sich einen Schuss Landwirt Nölke Weizenkorn in ihr Mineralwasser. „Bei den Weight Watchers haben sie mir erklärt, dass ich zu oft auf die Waage gehe, ich wäre eine Frau mit Wiegationshintergrund, meinte meine Teamerin.“
Werner schlug mit der Hand auf den Tisch, verzog das Gesicht und griff sich an seine Narbe: „Das ist doch jetzt aber vollkommen am Thema vorbei, Waltraud. Ich glaube, du nimmst das gar nicht ernst. Aber wenn die nächste Eiszeit kommt und das Wasser sich zurückzieht und die A45 freigibt und die ganzen Autowracks zum Vorschein kommen, die von den Fluten überrascht worden sind, weil sie die Steigung bei Syburg nicht geschafft haben, dann denkst du anders darüber!“
Waltraud blickte ihn an: „Warum bist du denn auf einmal so aggressiv? Man könnte ja fast meinen, der Leibhaftige wäre wieder hinter dir her!“
Bei dem Wort Leibhaftiger setzte sich Fleischmann auf die Hinterbeine, begann in einer anderen Tonlage zu jaulen und sprang vom Sofa, auf das er zwischenzeitlich wieder geklettert war.
Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte Waltraud: „Ich wäre für Österreich.“
„Gut“, antwortete Werner. „Ich könnte damit leben. Aber wir sollten das mit Fleischmann besprechen.“
„Unbedingt. Aber sagen wir es den anderen?“
Werner rieb sich die Nase. „Definiere andere.“
Waltraud goss sich noch etwas Landwirt Nölke Korn in ihr Mineralwasser und sah den Blasen beim Hochsteigen zu. „Deinem Modelleisenbahnclub und der Frauenhilfe und den Nachbarn, die ich beim Eiermann treffe ...“
„Waltraud, wir können nicht ständig für andere mitdenken.“
Bevor Waltraud etwas erwidern konnte, sprang Fleischmann auf, hielt auf das Fenster zu und knurrte wie von Sinnen.
„Oh mein Gott“, schrie Werner, „das Wasser! Es steigt schneller als ich dachte!“
Der Cockerspaniel schnellte herum und schnappte nach Werners operierter Hand. „Fleischmann, was .... arrrgh!“ Mit einem Biss trennte das Tier die Hand von Werners Arm. Waltraud wandte sich ab und schrie. Davon unbeeindruckt legte der Spaniel seine Pfote auf die abgetrennte Hand, die im nächsten Moment mit ihrem fellernen Gegenstück verschmolz. Die Fensterscheibe knirschte unter dem Druck der Wassermassen. Auf diese Weise mit einer Greifextremität ausgestattet, langte Fleischmann nach der Fernbedienung auf dem Tisch und drehte am Scroll-Rad. In Zeitraffer lief die letzte Woche vor Werner und Waltrauds Augen zurück. Irgendwann stoppte es und der Cockerspaniel legte die Fernbedienung zurück auf den Tisch.
„Es sind nur ein paar Sekunden vergangen, aber ich spüre, dass es jetzt letzte Woche Donnerstag ist. Uns passieren immer Sachen.“
Werner griff nach der Fernbedienung und schaute im Teletext-Menü nach.
„Du hast Recht und ja, ich sehe es und ich spüre es auch ganz deutlich.“
„Und sieh nur, deine Hand! Sie ist wieder da, wo sie hingehört und deine Narbe ist verheilt wie eh und je. Wie ist das möglich?“
„Canis ex machina“, gab Werner zurück. „Und jetzt pack alles Nötige zusammen, wir wandern aus!“
Eine Woche später saßen sie bei Apfelstrudel und Kaffee in ihrer neuen Unterkunft, einem Zwei-Zimmer-Apartment in einer kleinen Gemeinde im Ötztal und lasen den Wetterbericht für das Ruhrgebiet. Fleischmann lag unter dem Tisch und nagte an einem Kanten Voralberger Bergkäse.
„Siehst du, es hat begonnen“, sagte Werner und deutete auf die Wetterkarte, auf der sich ein dickes Wolkenband vom Münsterland bis zum Kahlen Asten zog.
Letzte Aktualisierung: 13.01.2016 - 07.30 Uhr Dieser Text enthlt 9794 Zeichen.