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Flucht | Januar 2016
Fluchtversuch
von Sarina Stützer

Gehetzt warf Kiara einen Blick über die Schulter. Seit sie in die kleine Gasse eingebogen war, konnte sie ihre Verfolger nicht mehr sehen, doch die stampfenden Schritte und das Rufen waren deutlich hörbar. Metallisches Schaben, als eines der gezogenen Schwerter an einer Hauswand entlangschleifte, drang an ihr Ohr; sie mussten näher sein, als sie gehofft hatte.
Verzweifelt wünschte sie sich, nur einen Augenblick stehen bleiben zu dürfen, um zu spüren, wie das Pumpen in der Brust weniger schmerzhaft wurde, der brennenden Lunge und den stechenden Muskeln eine Pause zu gönnen. Stattdessen quälte sie sich weiter.
Wenn sie sie erwischten, wäre das ihr sicherer Tod. Und es würde kein leichter, schneller Tod sein. Nein, ihr Sterben würde grausam und dreckig werden. Dieses Wissen trieb sie über jede Grenze, die ihr Körper ihr setzen wollte, hinaus.
Da ... eine Tür öffnete sich. Gab es hier vielleicht eine mitleidige Seele, die ihr Unterschlupf gewährte? Hoffnung zuckte in ihr auf. Ein bleiches Gesicht sah sie erschrocken an, dann wurde die Tür hastig wieder zugeschlagen, noch bevor sie sie erreicht hatte. Das Ersterben der Hoffnung wollte ihre Muskeln erschlaffen lassen. Sie zwang sich, nicht daran zu denken, hatte nicht einmal mehr die Kraft zu weinen. Vorwärts, weiter, weiter, einen Fuß vor den anderen, in die nächste Gasse einbiegen und auf ein Wunder hoffen.
Vorn links ging es zum Marktplatz. Konnte sie in dem Gemenge untertauchen? Oder war die Gefahr zu groß, dass jemand der Obrigkeit zu Diensten sein wollte und sie festhalten würde? Nicht jeder im Ort war ihr wohlgesonnen.
Nach rechts ging es zur Stadtmauer. War das Tor entgegen den Gepflogenheiten dieser friedlichen Zeit besetzt? Würden sie versuchen, sie dort abzufangen? Oder konnte sie ungehindert hindurch und versuchen, den Wald zu erreichen? Dazu würde sie jedoch erst freies Feld überqueren müssen.
Ohne anzuhalten entschied sie sich für den Marktplatz. Zum großen Viehmarkt war viel fremdes Volk in der Stadt, aber in ihrem Zustand würde sie selbst dort auffallen. Sie musste es riskieren, das Gewirr der Wagen und Herden ausnutzen und versuchen, für ihre Verfolger unsichtbar zu werden.
Sie kniff die Augen zusammen, als sie aus dem Schatten der Gasse hinausrannte, und stolperte, fast wäre sie gestürzt. Die Sonne brannte hell und sengend vom wolkenlosen Himmel. Schwarze Flecken tanzten wie zu früh erwachte Fledermäuse durch ihr Blickfeld.
Kiara tauchte ein in die Gerüche und Geräusche des Viehmarkts, die Ausdünstungen der Tierleiber vermischt mit Dung und Schweiß, verstärkt durch die mittägliche Hitze, ließ ihr eigenes rasselndes Keuchen im Blöken, Brüllen und Feilschen untergehen. Sie selbst nahm Geräusche nur noch gedämpft wahr; das Pochen ihres Herzens, der nächste schmerzhafte Atemzug waren die Dinge, die ihr Bewusstsein beherrschten.
Lange würde sie nicht mehr durchhalten. Panisch zuckte ihr Blick hin und her, suchte sie nach einer Möglichkeit, sich zu verbergen, bog hinter dem erstbesten Karren ab und begann einen Zickzacklauf durch die Herden und Wagen und Menschengruppen. Die erstaunten Blicke der Marktbesucher ahnte sie mehr, als dass sie sie sah. Ihre Haube war verrutscht, das braune Haar klebte ihr strähnig am Kopf und ihre Kleidung war nicht erst, seit sie auf dem Marktplatz war, verdreckt und schlammbespritzt.
Plötzlich wurde sie gewahr, dass sie das Poltern der Schritte hinter sich nicht mehr hörte. Keine Rufe, kein Waffenrasseln. Sie wusste nicht, ob es an dem Marktgeschrei oder an dem Blut lag, das durch ihre Ohren rauschte, oder ob ihre Verfolger tatsächlich nicht mehr zu hören waren. Sie erlaubte sich, ein wenig langsamer zu werden.
Plötzlich packte eine schwere Hand ihren Arm. Sie wollte schreien, doch ihren Lungen entwich nur ein Krächzen. Sie wurde zur Seite gezogen und–

Verwirrt sah sie auf. Nur langsam erkannte sie die Gegenstände in ihrer kleinen Wohnung wieder, das abgewetzte Schlafsofa, die winzige Küchenzeile, der farblose Schrank aus Bucheimitat. Dann wurde ihr bewusst, dass das Telefon schrillte, wie lange schon, konnte sie gar nicht sagen. Jedenfalls war dies das Geräusch, das sie in die Gegenwart geholt hatte. Sie klappte das Buch zu und sah sich suchend um. Wo hatte sie nur dieses Telefon liegen lassen? Sie ging dem Geräusch nach und fand es schließlich in ihrer Tasche. Stimmte ja, sie hatte es gestern zum Schlummertrunk bei Karin zwei Etagen tiefer mitgenommen. Sie drückte auf das grüne Hörersymbol.
„Hallo?“
„Hallo? Wer ist da? Ist da Tamara Langer?“
„Nein, hier ist Birgit Oppstädt.“
„Oh, sorry, verwählt.“ Klick.
Birgit runzelte die Stirn während sie das Telefonteil in die Station stellte. Unschlüssig stand sie kurz davor und beschloss dann, sich etwas zu essen zu machen, damit sich die Unterbrechung wenigstens lohnte. Der Blick in den Schrank eröffnete ihr die Auswahl zwischen Nudeln mit Fertigsoße, einer Dose Ravioli und Cornflakes. Da der Milchbestand fast aufgebraucht und Nudeln kochen ihr gerade zu aufwendig war, entschied sie sich für die Ravioli. Sie setzte den Dosenöffner an und sah aus dem Fenster. Es regnete immer noch; das gegenüberliegende Hochhaus wurde durch den Wasserschleier weich gezeichnet.
Mit geübten Bewegungen entfernte sie den Deckel von der Dose und merkte nicht, dass sie seufzte. Morgen war schon wieder Montag. Sie würde wieder ins Büro gehen, wo ein Stapel Bänder auf sie wartete, den sie heruntertippen würde. Wie jeden Tag. Montag bis Freitag, acht Stunden, zwanzig Tage Urlaub im Jahr.
Sie legte den Dosenöffner und den Deckel auf die Spüle. Kurz streifte ihr Blick das Geschirr vom gestrigen Abendessen. Das musste warten, Kiaras Schicksal war jetzt wichtiger. Sie steckte eine Gabel in die Raviolidose, nahm beides mit zum Tisch und klappte das Buch wieder auf. Noch blieben ein paar Stunden.

Version 3

Letzte Aktualisierung: 26.01.2016 - 20.24 Uhr
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