Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Flucht | Januar 2016
In einer Winternacht
von Kevin N. Hoffmann

Nach einer wahrer Begebenheit.

»Laut einer Legende sollen nicht unweit von hier neun Männer auf unnatürliche Weise umgekommen sein, als sie sich vor einer Flut auf den Berg retteten.«, grinste Alexander und zwinkerte aufreizend.
»Ach, halt die Klappe!«, rief Sinaida und schleuderte ihm einen Schneeball direkt ins Gesicht. »Hast du nichts Besseres im Sinn, als unschuldige Mädchen zu verängstigen?«
»Das kannst du doch selbst beantworten.«, mischte sich Ljudmila ein und warf Alexander einen vernichtenden Blick zu. »Übrigens sollten wir uns langsam nach einem Nachtlager umschauen. Ich habe das ungute Gefühl, dass es heute Nacht noch einen Schneesturm geben könnte.« Sie wandte den Blick besorgt gen Himmel und beobachtete die weiterziehenden Wolken, um die Stärke des Windes abzuschätzen.
»Leute, Ljudmila hat Recht. Es wird bereits dunkel und der Wind gefällt mir ganz und gar nicht!«, ertönte Semen Solotarews Stimme hinter den Dreien. Er hatte seine Mütze tief ins Gesicht gezogen. »IGOR!«, rief er über die Köpfe der Leute hinweg zum Gruppenführer, doch dieser schien ihn nicht gehört zu haben. Unbeirrt lief er den schmalen Pass weiter. Dessen Ziel war, noch ein paar Meilen voran zu kommen, damit sie nicht zu weit zurück fallen würden.
Rustem meldete sich zu Wort und lief kurze Zeit später hinauf zum Gruppenführer. Igor hörte ihn an und nickte schließlich. Auch er hatte die rapide Wetterveränderung bemerkt.
»Ich würde gerne noch diesen Pass hier hinter uns lassen. Hier ist es sehr ungeschützt; sollte uns wirklich ein Schneesturm überraschen.«, erklärte er seiner Gruppe und deutete in die Ferne. »Dort hinten müssten wir einen guten Windschutz haben. Wenn es euch recht ist, schlagen wir dort unser Lager auf.« Alle stimmten mit ihm überein und zogen ihre Jacken bis zum Anschlag zu, da just diesem Augenblick ein noch stärkerer Wind einsetzte. Ein leichter Schneefall folgte und schon nach kürzester Zeit war es der gesamten Gruppe unmöglich, etwas zu erkennen. Wie Blind tasteten sie sich vorwärts und orientierten sich an Igor Djatlows Rufen. Dicht aneinandergepresst marschierten sie durch den hohen Schnee, bis sie endlich an einer Stelle angekommen waren, an der der Sturm nicht seine volle Härte austoben konnte.
Routiniert, erfahren bauten sie das Zelt in wenigen Minuten auf, steckten die Skibretter tief in den Schnee und krochen in das Zelt.
Igor trat als letzter ein und schloss schleunigst den Eingang. Augenblicklich wurde es ein wenig wärmer obgleich der kalte Wind heulend und tobend gegen die äußere Wand des Zeltes schlug.
»Das ist gerade noch einmal gut gegangen.«, lächelte Sinaida müde und schlüpfte aus ihren Wintersachen, hinein in den Schlafsack.
»Nicht ganz.«, seufzte Igor als Antwort. »Ich glaube, wir sind ein wenig vom eigentlichen Weg abgekommen. Das kostet uns morgen bestimmt ein bis zwei Stunden mehr.« Er zog eine Karte und einen Kompass hervor und schüttelte den Kopf. »Wir sind etwa einen Kilometer nach Westen abgedriftet. Könnten auch weniger sein, aber genauso gut auch mehr. Entweder gehen wir morgen noch einmal bis zum Lager zurück oder wir versuchen, von hier aus den Weg zum Otorten einzuschlagen.«
»Ich bin dafür, dass wir in das Lager zurückgehen.«, sagte Ljudmila. Alle nickten und so war die Abstimmung beendet.
»Es ist echt verflucht kalt!«, ertönte Juri Doroschenkos Stimme. Er hatte seinen extra dick gefütterten Schlafsack bis zum Kinn hochgezogen und zitterte. Sein Namenspartner Juri Kriwonischtschenko nickte und deutete auf seine Tasche.
»Ich glaube wir haben irgendwo noch ein paar Wärmelampen. Igor, hast du sie eingepackt?«
»Nein!«, sagte Alexander und zog eine kleine Lampe hervor. »Ich habe sie. Aber viel Gas ist nicht mehr drin. Wir sollten erst einmal diese hier leer machen und dann die nächste verwenden.«
»Denke auch.«, nickte Igor und packte ein paar Lebensmittel aus seinem Rucksack. »Und Essen sollten wir auch etwas. Den Gaskocher hast du, Sinaida, oder?«
»Ja. Warte ich hole ihn.«
Und so hatten die Freunde einen recht vergnüglichen Abend. Sie kuschelten sich eng aneinander, hatten die kleine Wärmelampe an der Decke aufgehängt und auf dem kleinen Gaskocher brodelte ein Bohneneintopf aus der Dose.
»Habt ihr heute Morgen auch diese orangenen Lichter gesehen?«, fragte Sinaida nach einer Weile und sah ihren Freunden direkt in die Augen. »Es war merkwürdig. Als es noch nicht ganz hell war, bin ich nach draußen und habe in der Nähe vom Cholat Sjachl ein paar merkwürdige Lichter am Himmel gesehen.«
»Vielleicht waren es irgendwelche Eiskristalle, die die Sonne reflektierten?«, mutmaßte Juri und zuckte die Achseln.
»Ich weiß nicht. Es sah aus, als wären die Lichter über dem Berg, aber so genau konnte ich es nicht erkennen.«
»Dann sollten wir uns, keine Sorgen machen.«, lächelte Alexander und nahm noch etwas von dem Eintopf. »Möchte noch jemand etwas zu essen?« Einige der neun nickten und streckten ihre Schalen aus.
»Schon unheimlich.«, meinte Ljudmila nach einer ganzen Weile des Schweigens. »Wenn Igor Recht hat, befinden wir uns nicht unweit vom Cholat Sjachl.«
»Zu nah.«, stimmte Igor ihr zu. »Es macht mir geradezu eine Gänsehaut. So nah wollte ich dem Berg der Toten niemals kommen.«
»Wisst ihr was mich daran besonders beunruhigt?«, sagte Alexander und schluckte. »Ihr kennt doch die Legende mit den neun Männern, die Zuflucht auf dem Cholat Sjachl suchten und starben? Wir sind auch neun, weil Juri Judin krank geworden ist und umkehren musste.«
»Aberglaube.« Semen Solotarew schüttelte den Kopf. »Nichts als Aberglaube.«
»Hoffen wir es.« Alexander verzog sein Gesicht und blickte unsicher hinüber zum Zelteingang.
Der Rest des Abends verging wieder ein wenig fröhlicher. Die neun blieben noch etwas über drei Stunden wach, lachten, redeten über ihre Zeit an dem Polytechnischen Instituts des Ural und bedauerten Juri Judin, der dieses Jahr nicht bei der Skiexkursion dabei sein konnte.

Es war mitten in der Nacht, als Sinaida aus dem Schlaf schreckte. Sie meinte, irgendjemand hatte ihren Namen gerufen. Verwundert rieb sie sich den Schlaf aus den Augen und hob ihren Kopf leicht an. Die Wärmelampe gab nur noch ein schwaches Licht von sich und tauchte das Zelt ins halbdunkel. Alle schienen fest zu schlafen.
Darüber nicht weiter beunruhigt, bettete sie ihren Kopf auf einen ihrer Arme und schloss die Augen. Bildete sie es sich nur ein, oder hörte sie Schritte vor dem Zelt? Aber wer würde bei diesem Wetter draußen um ein Zelt herumschleichen? Erneut blickte sie auf und zählte die Anzahl der Köpfe, um sicherzustellen, dass nicht einer ihrer Freunde draußen war: acht - mit ihr neun. Vollständig.
»Alex.«, flüsterte sie leise und rüttelte an seinem Arm. Alex öffnete murrend die Augen und sah sie verwirrt an.
»Was?«, murmelte er und verzog mürrisch das Gesicht.
»Hör doch. Da schleicht jemand um das Zelt herum.« Alexander horchte auf. Tatsächlich. Er stieß Juri an und erklärte ihm ganz leise, er solle die anderen wecken.
Nach und nach saßen sie allesamt aufrecht im Zelt und lauschten den Schritten. Igor, der dem Eingang am nächsten lag, zog aus seiner Tasche einige Messer hervor und verteilte sie.
Die Stimmung hatte sich vollends verändert. Die noch bei der gemeinsamen Mahlzeit vorherrschende Euphorie hatte ein jähes Ende gefunden; stattdessen schwebten nun Angst und Anspannung im Zelt. Keiner wagte sich zu bewegen. Alle verharrten sie in der Stille.
Nach einer Weile schienen sich die Schritte zu entfernen. Alle atmeten erleichtert aus. Da ertönte ein markerschütternder Schrei - nicht von dieser Welt - und noch ehe sich die Gruppe versah, hatte jemand oder etwas den Zelteingang ins Visier genommen. Schatten hatten sich davor aufgebaut und rüttelten heftig an dem Gestänge.
Die Freunde schrien auf und sprangen aus ihren Schlafsäcken.
»Wir müssen hier raus!«, brüllte Juri, packte sein Messer und stieß es in das Zeltdach. Er riss, zerrte und schnitt es auf und sprang mit einem Satz hinaus in die Dunkelheit. Alexander tat es ihm auf der anderen Seite gleich und so hasteten nach kürzester Zeit alle barfuß oder mit Socken durch den kalten Schnee. Ein seltsames orangenes Licht war am Gipfel des Cholat Sjachl erschienen.
Nicht unweit des Zeltes befand sich ein Wald, auf den sie nun alle panisch zu rannten.
»Schnell!«, brüllte Igor und deutete zu den Bäumen. »Vielleicht können wir dort Schutz finden.« Ein zweiter Schrei ertönte und ein Schatten raste an der Gruppe vorbei.
»Was war das?«, schrie Ljudmila mit vor Angst bebender Stimme. »Dieses Ding – es sah nicht wie ein Mensch aus.« Das orangene Licht wurde stärker. Die Gruppe hatte sich schon fast zum Wald vorgeschlagen, als ihre Flucht ein jähes Ende nahm.
Schmerzensschreie hallten durch das verlassende Tal.

Es dauerte nicht lange und es herrschte wieder Stille. Das orangene Licht verschwand und die Dunkelheit kehrte zurück. Einzig der dunkle Umriss eines Raben blieb zu erkennen, welcher sich auf einem Baum niedergelassen hatte.

Am 26. Februar 1959 wurde ein Suchtrupp fündig. Die Umgebung um das verlassene und zerstörte Camp wurde abgesucht und die Fußspuren von neun Leuten wurden gefunden. Hangabwärts, Richtung Wald, machte das Team einen schrecklichen Fund. Alle neun Gruppenmitglieder wurden tot aufgefunden. Die Körper waren verbrannt und radioaktiv verseucht. Das seltsamste jedoch war die orangene Färbung ihrer Haut und die ergrauten Haaren, so als ob sie in jener Nacht vergreist wären. Einem Opfer fehlte die Zunge und drei weitere Mitglieder hatten innere Verletzungen, als ob sie mit voller Wucht gegen etwas Hartes gestoßen waren. Die Rippen bohrten sich tief in ihre Eingeweide hinein, doch die äußere Haut schien völlig unverletzt geblieben. Anzeichen eines Kampfes gab es nicht. Theorien wie es geschehen sein könnte kamen auf, die eine unwahrscheinlicher wie die nächste. Und doch ist es immer möglich, auch das Unwahrscheinliche zuzulassen.

Letzte Aktualisierung: 18.01.2016 - 07.06 Uhr
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