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Flucht | Januar 2016

Vier Schuss!
von Anne Zeisig

Maria umarmte ihre Mutter im fahlen Schein der Petroleumlampe, welche die Scheune nur spärlich erhellte.
Den Pferdekarren hatte sie bereits gepackt und angespannt auf dem Weg zum Hof unter der alten Eiche abgestellt, damit er vom Haupthaus aus nicht sichtbar war. Warm unter Decken und Fellen lagen die drei Monate alten Zwillinge und der Siebenjährige schlafend.
“Mutter”, flehte Maria, “willst du nicht doch mitkommen? Bist längst nicht mehr Herrin auf dem eigenen Hof und musst zusehen, wie sie alles herunterwirtschaften, was Vaters Familie aufgebaut hat.” Sie blickte ihr eindringlich in die Augen. “Vater hatte sich geweigert, der Partei beizutreten, ihr habt kein Saatgut erhalten, auf den Feldern sprießt das Unkraut, er hat für einen Hungerlohn Hab und Gut der Juden über die Grenze gebracht und das mit seinem Leben bezahlt.” Maria sah sich ängstlich um. “Hitler hat den Krieg längst verloren. Deine Söhne sind auf dem Schlachtfeld gefallen und mein Mann in Russland. Die Front rückt näher. Komm mit! Ich bitte dich darum. Deine Enkel und ich brauchen dich in der Fremde.” Sie schluckte die Tränen hinunter.
Die Mutter streifte ihr kurz über die Schulter. “Unsere ehemaligen Zwangsarbeiter hören auf mich und wissen meine Kenntnisse zu schätzen. Du weißt, dass wir sie immer gut behandelt haben und mit ihnen gemeinsam am Tisch saßen, obwohl das verboten war. Sie werden mir nichts antun. Noch ist das Milchvieh zu versorgen.”
“Mit was, Mutter, willst du die Kühe über den Winter füttern? Bald ist die Scheune leer. Nichts wurde ausgesät und die Arbeiter werden in ihre Heimat zurückkehren. Und wer kommt dann? Die Sieger! Wie es dir dann ergehen wird, daran will ich nicht denken.”
Nun umarmte sie ihre Tochter. “Wenn sie andere Leute hier reinsetzen, komme ich nach, versprochen!” Eilig schob sie Maria aus der Scheune hinaus. “Mach dich auf den Weg, solange die Kinder schlafen und die Dunkelheit dir Schutz bietet.”
“Und wenn ich ohne dich nicht gehe?”
“Ich habe versprochen, dass ich nachkomme, wenn ich es für richtig halte.” Nun wurde ihre Stimme brüchig. “Ich will nicht bereits jetzt das Feld räumen, welches ich Jahrzehnte beackert habe, versteh das bitte.”
Sie mahnte die Tochter zum Aufsitzen. “Gott sei mit dir.”
Maria blickte sich nicht mehr um.
Hier hatte sie ihre Kindheit und Jugend verbracht. Ihren Mann Franz kennengelernt, einen feschen Kerl bescheidener Herkunft aus dem Nachbardorf, obwohl die Mutter es lieber gesehen hätte, wenn sie den Karl vom Aloyshof geehelicht hätte. Aber niemand konnte ihr da hineinreden. Der Franz war ihr Auserwählter.

Der Schnee unter ihren Füßen knirschte viel zu laut. Auch war die Nacht mit dem Vollmond zu hell. Aber sie konnte nicht mehr bleiben. Wollte weg, solange das über die ‘Grüne Grenze’ noch möglich war. Maria kannte hier jeden Stein und jeden Grashalm.
Musste täglich nach der Schule den Grenzern Milch in zwei großen schweren Zinkkannen bringen. Sie zahlten gut. Nur ihre Witze hatte sie als Kind nicht verstanden, wenn sie sich grölend auf die Schenkel klopften.
Noch einmal vergewisserte sie sich, dass die Kinder schliefen. Wie friedlich sie schlummerten. Anton konnte sich nicht mehr an seinen Vater erinnern. Für ihn waren alle Männer in Uniform der Vati, der auf Urlaub war.
In der Ferne gab es eine Detonation. Instinktiv duckte Maria sich und sah in den erhellten Himmel, von Ferne hörte sie das Motorengeräusch der Bomber.
‘Gott beschütze meine Mutter’, flehte sie stumm und schwang sich auf den Kutschbock, sagte leise “Hühhhh” und das Gefährt setzte sich in Bewegung, tief schnitten sich die Räder in den Schnee, sie kamen nur langsam voran.
Maria mied den Weg durch das Dorf, um kein Aufsehen zu erregen.
Es wäre ein Risiko gewesen, den Pferdeschlitten zu nehmen, denn ihre Flucht ging Richtung Norden und womöglich in weniger schneereiche Gebiete.
Ihre Mutter hatte ihr dazu geraten, das Fuhrwerk zu nehmen, obwohl nichts mehr auf dem Hof ihnen persönlich gehörte.
“Es könnten Diebe gewesen sein”, beschwichtigte ihre Mutter sie, “die Ackergäule und das Vieh sind ja noch da.”

* * *

Die Räder fraßen sich schwer durch den Tiefschnee. Mehrmals musste sie absteigen, die Zügel kurz fassen, um das Gefährt auf den rechten Weg halten. Die Schimmel waren im Winter nur den Schlitten gewohnt und bockten immer wieder. Maria versank bis zu den Knien im glitzernden Weiß, jeder Schritt war mühselig und kräfteraubend. Lediglich das Schnauben aus den Nüstern blies ihr etwas Wärme in den Nacken und nun war sie doch froh über diese sternenklare Nacht, weil der Himmel ihr die Orientierung erleichterte. Gleich müsste sie die Grenze erreicht haben. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit.
Ausgerechnet jetzt begannen die Kleinen zu wimmern. Sie kletterte auf den Wagen, wühlte sich durch einen Wust von Decken und Fellen, auch das Entblößen ihrer Brust dauerte viel zu lange, weil sie mehrere Schichten Kleidung übereinander trug. Aber dann lagen die Beiden endlich schmatzend und saugend in ihren Armen. Von Weitem hörte sie Grollen und Motorengeräusche. Wenigstens Anton schlief. Ihre Mutter hatte ihn am Abend mit Rühreiern und Speck vollgestopft, damit er durchschliefe.
Das blonde lockige Haar hatte er von seinem Vater. Sie strich ihm sanft über den Kopf.
Viel zu früh setzte sie die Kleinen ab und wickelte sie wieder ein. Gab ihnen einen Kuss auf die Stirn. “Das muss fürs Erste reichen,” flüsterte sie und rückte die Häkelmützchen zurecht, unter denen das schwarze Haar versteckt war, “wir müssen weiter, die Zeit drängt, wenn wir hinter der Grenze sind, dürft ihr Trinken, so viel ihr wollt.” Sie war froh, dass die Mädels sofort einschliefen und schwang sich auf den Kutschbock.
Aber ihr Busen schmerzte. Er war nicht vollkommen entleert. Sie sprang vom Gespann und presste eilig mit streifenden Handbewegungen die Restmilch in den Schnee. Eisige Kälte kroch in sie hinein, ihre Beine spürte sie kaum noch, die Pferde weigerten sich, durch den tiefen Schnee zu gehen. Wenn sie sie führte, ging es.
Jedes Mal, wenn es eine Detonation gegeben hatte, blickte sie sorgenvoll in den Himmel, der sich rötlich verfärbte, die Bomber kamen näher.

Und plötzlich hatte sie wieder den Geruch in der Nase von Schweiß und Schnaps. Hörte sein Keuchen in ihren Ohren, als er in sie eindrang und wie seine Kameraden Beifall klatschten: “Zeig es ihr! Besorgs dem Naziweib!” Einer hielt ihr einen Gewehrlauf in die Seite.
Ein anderer drückte ihr eine Pistole an die Stirn. “ Wenn es dir nicht gefällt, drücke ich ab.” Auch er verging sich an ihr, riss ihren wunden Unterleib auseinander.
Bis die Dunkelheit sie erlöste.
Maria fühlte sich dreckig wie die Erde, auf der sie lag, als sie zu sich kam und zitternd ihr Kleid ordnete.
Ihre ‘Mutter Erde’ war das nicht mehr!

Maria löschte die Petroleumlampe am Gespann. “Brrr.”
Hörte sie Schritte? Sie wagte kaum zu atmen.
“Mutti. Was ist los? Wo bin ich?”
“Anton!”, zischte sie, “sei ruhig.”
Maria hockte sich hin. Das waren Schritte! Links von ihr hörte sie das Rauschen des Flusses. Vom Weg war sie also nicht abgekommen.
Sachte zog sie das Gewehr ihres Vaters vom Kutschbock und spannte den Abzug. Hielt den Lauf in die Richtung, aus der das Knirschen kam und es dauerte nicht lange, da hörte sie auch das Atmen eines Menschen.
Atmen? Das war ein Keuchen.
Ein Grenzer? Aber einer kam nie alleine. Die gingen immer zu zweit auf Patrouille. Sie erhob sich langsam und tätschelte die Schimmel mit der Linken an den Hälsen, wie sie es gerne mochten, die rechte Hand hielt die Waffe umklammert. Maria blickte zu Boden und konzentrierte sich auf die Richtung, aus der sie das Knirschen und Keuchen vernahm. Die Pferde blieben ruhig.
Hoffentlich wurden die Kleinen nicht wach. Anton war immer ein braver Junge. Tränen liefen ihre Wangen hinab und bissen sich eisig brennend ins Fleisch.
Sie wollte sich nicht vergewaltigen lassen!
Niemals mehr!
Aber dieses Keuchen! Es war ein Mann, das hörte sie.
`Ich knalle ihn ab.´

“Nein!”, hatte sie ihrer Mutter versichert, “sie haben mir nichts angetan.”
Warum sollte sie ihrer Mutter größere Sorgen bereiten, das Leben war hart genug in diesen Zeiten.
“Hast am Morgen wieder nicht genug gegessen!”, hatte die Mutter geschimpft, als sie fahl und bleich vom Feld kam und später nicht fragte, wer der Vater der Zwillinge sei, obwohl man im Dorf tuschelte, sie sei ein Zwangsarbeiterflittchen und hätte nicht einmal das Trauerjahr abgewartet.
“Sollen sich lieber um die Arbeit kümmern, anstatt zu Tratschen”, schimpfte Marias Mutter und kümmerte sich um den Tauftermin.
“Besser ein Kind im Kissen, als eines auf dem Gewissen”, hat der Herr Pfarrer geflüstert.
Maria hatte genickt. Die Beiden können nichts dafür. Wurden hineingeboren in eine Welt von Gewalt und Tod.

“Wenn du näher kommst, knalle ich dich ab”, rief sie und blickte mit zusammengekniffenen Augen angestrengt in die Dunkelheit, konnte aber noch keinen Umriss ausmachen, “ich bin bewaffnet!”
Dann senkte sie ihren Blick.
Der Schnee unter ihr glitzerte wunderschön.
Wie einfach wäre es, wenn sie erst ihre Kinder und dann sich erlösen würde.
Vier Schuss!
Und alles wäre vorbei.


ENDVersion

Letzte Aktualisierung: 27.01.2016 - 15.58 Uhr
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