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Flucht | Januar 2016

Der Junge mit der Wodka-Flasche
von Monika Heil

1994
Irgendwann und irgendwo in einem Flüchtlingslager
während der Jugoslawienkriege

Regen hatte die Erde aufgeweicht. Unzählige schmutzige Zelte standen auf matschigem Grund. Die Tage waren kühl, die Nächte empfindlich kalt. Das hoffnungslos überfüllte Lager war in einem trostlosen Zustand. Trotzdem fand er, die Tage waren zu ertragen. Viel größer war seine Furcht vor den endlosen Nachtstunden, in denen sein abgemagerter Körper erstarrte und sein Herz fast erfror. Rogic hasste diese einsamen Nächte. Er sehnte sich nach Mira, konnte sich kaum noch an ihre warme Zärtlichkeit erinnern. Er sah nur noch ihren geschundenen toten Körper, erschlagen bei einem feindlichen Überfall.

Zu Hause hatte er ein kleines Stück Land, das ihn und Mira hätte ernähren können. Auch für das Kind hätte es gereicht.
„Es wird ein Mädchen“, hatte der Arzt gesagt. Das Ungeborene war mit Mira gestorben. Alle, die er liebte, lebten nicht mehr. Manche waren einen langsamen Tod gestorben, andere ganz schnell verreckt. Vater, Mutter, Brüder, Junge, Alte. Alle die er liebte, hatte ein sinnloser Krieg ausgelöscht.

Aber er, Rogic lebte und wollte weiter leben. Dafür musste er die Erinnerung auslöschen. Das gelang ihm oft nur für Augenblicke.

Er fand die Flasche unter einer Grasnabe, in einer winzigen Senke nahe des Lagerzaunes. Wodka – ein Liter klarer starker Wodka. Hatte jemand die Flasche über den Zaun geworfen? War es das kostbare Geheimnis eines Kameraden? Kannte er ihn? Rogic interessierte das alles nicht. Er lehnte an dem morschen Zaun, seine dünnen Beine in den schmutzigen Stiefeln angewinkelt. Er riss den Korken mit den Zähnen aus dem Flaschenhals. Den Trick hatte ihn sein Großvater gelehrt. Er umklammerte den Glaskörper mit zitternden Händen, warf den Kopf zurück und schluckte gierig die klare Flüssigkeit. Sie brannte wie Feuer in seiner Kehle. Rogic hatte seit fast zwei Tagen nichts mehr gegessen.

Der Alkohol explodierte in seinem Kopf. Bilder flammten auf wie Feuerwerk, malten bunte Illusionen und verglühten. Rogic wollte diese Bilder festhalten. Sie erloschen in der Unendlichkeit des Firmaments. Im Zeitraffer raste sein Leben an ihm vorüber. Hatte er eben noch mit gebrannten Tonmurmeln gespielt, so saß er schon mit wissbegierigen Augen auf der Schulbank. Dann die Lehrzeit in der Bäckerei eines Verwandten. Er hörte Großvaters Donnerstimme noch einmal: „Ihr könnt den Jungen nicht einsperren. Er braucht die Natur wie die Luft zum atmen. Lasst ihn in der Landwirtschaft arbeiten.“ Irgendwann erntete er Kartoffeln und Mais auf seinem eigenen kleinen Stück Land und war glücklich.

Ohne Vorwarnung stoppte sein Lebensfilm. Standbild. Heilig Abend. Der Großvater gebeugt, auf einen Stock gestützt, schlohweiße Mähne, milder Altersblick. Mira in einem blauen, verwaschenen Kleid, verlegen lächelnd, seine ausgestreckte Hand ergreifend. Ein Holzfeuer lodert im Ofen.

Rogic spürt dem letzten Augenblick inneren Friedens in seinem Leben noch einmal nach. Länger als ein Jahr ist das jetzt her. Er atmet die Erinnerung tief ein. Die leere Flasche entgleitet seinen Händen. Er streckt die Beine aus, als wolle er sie an einem Lagerfeuer wärmen. Die Augen hält er geschlossen. Er lächelt. Seine grauen Gesichtszüge entspannen sich.

So fand man ihn am nächsten Morgen. Keiner verstand das Lächeln auf seinem Gesicht. Aber niemand konnte sich seinem Glanz entziehen.

Letzte Aktualisierung: 08.01.2016 - 13.14 Uhr
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