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Flucht | Januar 2016

Die Erforschung der Langeweile
von Marcel Porta

Die Tür fiel hinter mir ins Schloss und riegelte die Welt von mir ab. Für die nächsten zwei Wochen war ich allein, und es gab keine Möglichkeit für mich, Kontakt aufzunehmen. Mit niemandem, das war der Deal. Das Gerät an meinem Kopf spürte ich kaum noch, so sehr hatte ich mich in der Vorbereitungsphase daran gewöhnt. Es zeichnete meine Hirnströme auf und sandte sie zu einem Computer, der Tausende Kilometer entfernt stand. Dies war meine einzige Verbindung zur Außenwelt.

Ich hatte mich zu diesem Experiment gemeldet, weil ich das Geld brauchte. Mehr noch aber, weil ich diese Auszeit nötig hatte. Fern von allen Ablenkungen, dem Lärm der Menschen und den Verlockungen der Vergnügungsindustrie. Ganz zurückgeworfen auf mich selber. In diesem Zimmer gab es keine Bilder, nicht einmal Farben, nur blütenreines Weiß. Es gab keine Geräuschquelle außer mir selber, nur ein Bett, einen Stuhl und einen kleinen Tisch.
Die Erforschung der Langeweile erschien mir langweilig, doch das sollte nicht meine Sorge sein. Wenn ich neben mir selbst bei dieser Studie noch einen Wissenschaftler glücklich machen konnte, warum nicht?
Hier würde mich nichts vom Nachdenken ablenken, und das hatte ich nötiger als unbeschwertes Atmen.
Ich legte mich auf das Bett, dem man irgendwie beigebracht hatte, kein Geräusch von sich zu geben, und ließ meine Gedanken schweifen.


Seit meiner Scheidung war es mir nicht mehr gelungen, intensiven Kontakt zu einer Frau aufzunehmen. Die Frustration über die gründlich gescheiterte Ehe verleidete mir jede Beziehung schon im Ansatz. Darüber hinaus stempelte sie mich nicht gerade zu einem begehrenswerten Mann. Die Frauen mieden mich wie der Teufel das Weihwasser. Früher war das anders gewesen.

Als ich mit siebzehn meine spätere Frau Steffi kennenlernte, war es Liebe auf den ersten Blick. So sah ich es damals. Und heute weiß ich auch, warum.
Als Internatsschüler hatte ich so gut wie nie Kontakt zu einer Frau. Ich lebte quasi im tiefsten puritanischen Mittelalter. Da waren Hemmungen und lächerliches Benehmen im Beisein dieser geheimnisvollen und unerklärlichen weiblichen Wesen mit tödlicher Sicherheit vorauszusagen. Und wenn dann doch einmal eine gewisse Nähe hergestellt war, kam ein ungeheurer Enthusiasmus auf. So gewaltig, dass er das gesunde Urteilsvermögen völlig außer Kraft setzte. Dann wurde genau dieses Mädchen zur Göttin erhoben. So habe ich auch Steffi zur fantastischen Geliebten stilisiert, ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit. Einfach nur, weil sie Interesse an mir unscheinbarem Bürschchen erkennen ließ. Sie hatte keine Chance, meinem Bild von ihr gerecht zu werden.

Die vollkommene Stille im Raum schärfte meine Sinne. Wie hatte ich sie herbeigesehnt. Und nun elektrisierte sie mich, ließ mich nicht einschlafen. Doch zum Schlafen war ich nicht hierhergekommen. Also hing ich weiter meinen Gedanken nach.


Diese Einstellung der extrem unkritischen Frauenverehrung hat über viele Jahre hinweg die Ehe mit der ersten Frau, die mich als Mann wahrnahm, getragen und vor Schaden bewahrt. Unglücklich, ja, das war ich, genau genommen von Anfang an. Eine Ursache dafür ließ sich jedoch nicht ausmachen, nicht, solange ich solchermaßen befangen und der Internatsgesinnung verhaftet war. So nenne ich diese lächerliche Einstellung heute.
Die Ehe war alles andere als beglückend. Die Unterschiede im Charakter, in den Erwartungen an das Leben, in den Wertvorstellungen, waren nicht miteinander zu vereinbaren. Und das einzige Mittel, das helfen kann, solche tiefen Gräben zuzuschütten, eine Verbindung von Individuum zu Individuum zu schaffen, entpuppte sich tragischerweise als das größte Hindernis für ein glückliches Beisammensein. Die Stunden des körperlichen Kontaktes, die ich nie müde geworden war, mir in den schillerndsten Farben auszumalen, wurden zur größten Enttäuschung in unserer Beziehung.
Ich wollte lebendigen Sex, der unsere Liebe ausdrückte, unser Zusammengehörigkeitsgefühl bestärkte.
Tatsächlich aber reichte es nur zu lustlosem Herumstochern in flachen Gewässern, Befriedigung blieb ein Fremdwort und so war körperliche Nähe kein Heilmittel für die Wunden, die das Zusammenleben bei unseren gegensätzlichen Charakteren unvermeidlich schlug.

Ich verspürte Durst und begab mich zu dem Saugrohr, das einige Zentimeter aus einer Wand herausragte. Durch Saugen konnte ich reines klares Wasser zu mir nehmen, etwas anderes gab es in den beiden nächsten Wochen nicht zu trinken. Zu essen gab es nichts, das war Teil der Vereinbarungen, die ich unterschrieben hatte. Die Rahmenbedingungen schreckten viele ab, an der Studie teilzunehmen. Mich hatten sie im Gegenteil erst bewogen, mich zu einer Teilnahme bereit zu erklären.
Auch der Stuhl gab beim Verrücken keinen Laut von sich. Langsam ließ ich mich darauf nieder und legte meine Hände auf den Tisch. Ich schaute sie mir an, ließ mir Zeit dabei. Davon hatte ich jetzt genug. Sie erinnerten mich an die meines Vaters, der Zeit seines Lebens hart gearbeitet hatte. Schwielen zierten seine. Meine dagegen waren harte Arbeit nicht gewöhnt, selbst beim Rasenmähen bekam ich Blasen. Und dennoch war die Ähnlichkeit verblüffend.


Mein Vater war mit meiner Exfrau nie warm geworden. Auch meine Mutter nicht. Und meine Schwester schon gar nicht. Oft genug warnte sie mich, dass Steffi auf meine Kosten schmarotzte. Doch so habe ich das nie gesehen. Die Probleme lagen ganz woanders.
Über Jahre hinweg hat Steffi mich in dem Glauben gelassen, dass sie sich etwas antun würde, wenn ich mich je von ihr trennen sollte. Keine andere Drohung hätte mich so lähmen und binden können. Und wieso war ich mir sicher, dass sie nichts dergleichen tun würde, als ich schließlich ging? Ich war es ja gar nicht, überhaupt nicht. Doch der Leidensdruck war zu groß geworden. Einige Tage zuvor war ich aus einem schrecklichen Albtraum aufgewacht und befand mich unerklärlicherweise auf dem Flur vor dem Schlafzimmer, mit tränennassen Augen und abgrundtief unglücklich. Da wusste ich, dass ich vor die Hunde ging, wenn sich nichts ändern würde. Der unbezwingbare Weinkrampf, der sich anschloss, und das intensive Gefühl, tot, oder genauer, nicht mehr lebendig zu sein, öffneten mir die Augen. Einsamer war ich in meinem ganzen Leben nie gewesen.

Auch jetzt, in dieser extremen Umgebung, fühlte ich mich geborgener als damals. Selbst nach einer Woche in der Sterilität dieses Raumes sehnte ich mich nicht nach Veränderung. Das anfängliche Hungergefühl war verschwunden und einen Tag- und Nachtrhythmus gab es nicht mehr. Ich schlief unregelmäßig und immer nur kurz - wenn mein Zeitgefühl mich nicht trog, denn natürlich gab es keine Uhr. Lediglich eine Zahl über der Tür zeigte an, wie viele Tage bereits vergangen waren.


Wie feindselig Steffi mich anschaute, als ich ihr sagte, dass ich gehen musste! Oft hatte ich in den letzten Jahren dieses Gesicht studieren dürfen, aus dem mir blanker Abscheu entgegenschlug? Hass macht hässlich, wie wahr. Wieso klammerte sie sich nur so an mich, wenn sie mich gleichzeitig so hassen konnte?
Doch diesmal konnte ich ihre Gefühle verstehen, noch nie zuvor hatte ich sie so verletzt. Und sie wusste, dass es mir ernst war. Dass ich wirklich gehen würde.

Schweigen war Steffis Methode, mich meinen Selbstvorwürfen zu überlassen. Sie kannte mich in- und auswendig, wusste genau, wie sie mich packen konnte. Doch diesmal blieb ich hart. Ich musste gehen. Die Alternative wäre noch schrecklicher gewesen.

Und wieder einmal fühlte ich mich schuldig.
Das Bücherregal hinter ihrem Sessel war immer noch nicht repariert, die leichte Neigung nach links sprang mir ins Auge. Jetzt brauchte ich mich darum nicht mehr zu kümmern. Was aus unseren gemeinsamen Besitztümern wurde, war mir in diesem Moment vollkommen egal. Nur weg hier, raus, solange ich noch Luft bekam und atmen konnte. Solange ich noch die Kraft dazu hatte. Wer weiß, wie lange das noch möglich war.

Ungefähr ein Jahr, nachdem wir uns kennengelernt hatten, gab es den ersten Versuch einer Flucht. Ich schämte mich immer noch, wenn ich daran zurückdachte, wie leicht sie mich wieder eingefangen hatte. Mir ein schlechtes Gewissen zu machen, hatte schon gereicht. Für diese Schwäche hatte ich mit vielen Jahren Leiden bezahlt. Eine brutale und gnadenlose Strafe. Doch wem wollte ich dafür Vorwürfe machen, wenn nicht mir selber.

Jetzt sind es nur noch zwei Tage, die ich hier verbringen darf. Ich habe mich in diese unendliche Stille und Ruhe eingewöhnt. Wenn der Tod so ist, werde ich ihn als Freund begrüßen.


Ich hatte Steffis Mutter auf dem Totenbett geschworen, mich um ihre Tochter zu kümmern, sie nicht im Stich zu lassen. Und dieses Versprechen wog schwerer, als das vor dem Standesbeamten ein paar Jahre später. Ich habe meine Schwiegermutter geschätzt, und als ich ihr mein Wort gab, hatte ich fest vor, es zu halten. All die Jahre habe ich an sie gedacht, wenn ich wieder mal kurz davor war, aufzugeben. Doch jetzt wusste ich, dass mein eigener lebendiger Tod ein zu hoher Preis war. Das hatte ich endlich verstanden.

Steffi hatte inzwischen wieder einen Partner gefunden und ich war froh darüber. Das schlechte Gewissen, sie verlassen zu haben, meldete sich seither nur noch selten zu Wort, und wenn ich an sie dachte, dann mehr mit einem tiefen Bedauern über die Zeit, die wir beide verloren hatten, als mit Hass oder Vorwürfen. Schuldzuweisungen waren in einem solchen Fall völlig sinnlos und verzerrten die Wirklichkeit. Es war mir nicht gut gegangen in dieser Ehe, doch das traf für sie genauso zu ...

Meine Zeit ist um. Hat man mir gesagt. Schade, ich hätte es noch gut eine oder zwei Wochen ausgehalten. Doch selbst wenn das nicht möglich ist, es geht mir schon viel besser. Ich werde mich erst mal irgendwo verkriechen, wo mich niemand kennt, um weiter nachzudenken. Es gibt im Moment nicht Wichtigeres für mich.



© Marcel Porta, 2015
Version 1

Letzte Aktualisierung: 04.01.2016 - 08.18 Uhr
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