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Heimat | Februar 2016
Die Nachricht
von Monika Heil

Der 6. Oktober 1953 war ein Dienstag. Nichts wies darauf hin, dass es ein besonderer Tag werden würde. Deshalb kann ich mich an Details auch nicht erinnern. Ich nehme an, ich bin - wie gewohnt - sehr früh am Morgen aufgestanden. Ich habe mein Butterbrot gegessen und - wie immer - warme Milch dazu getrunken. Dann habe ich meinen Ranzen auf den Rücken genommen und mich auf den Schulweg gemacht. Ich war acht Jahre alt und besuchte die dritte Klasse. Seit meiner Einschulung lebte ich bei den Großeltern in einem kleinen Dorf im Ostharz. Deutschland war geteilt und unsere Gemeinde lag in der damaligen DDR. Die Menschen ernährten sich überwiegend von den Erzeugnissen ihrer kleinen Höfe.

Bei uns wurde jedes Jahr ein Schwein gemästet und im Spätherbst geschlachtet. Es war stets ein besonderes Ereignis, wenn der Metzger, der in diesen Wochen von Hof zu Hof zog, einen Tag zu uns kam und unsere Luise schlachtete. Alle Sauen hießen bei uns Luise. Er verarbeitete das Tier zu Wurst und Fleisch, das dann von meiner Großmutter gepökelt, eingekocht oder geräuchert wurde. Ich nannte den Metzger Onkel Moritz. Warum, weiß ich nicht mehr, verwandt waren wir jedenfalls nicht. Am Schlachttag gab es frisches Wellfleisch, Sauerkraut und Kartoffeln oder Wurstsuppe, angereichert mit Blut- und Leberwürsten, die beim Kochen geplatzt waren. Nur für Onkel Moritz bereitete Großmutter Pfannkuchen mit Blaubeeren zu.

Milch und Butter lieferten zwei Ziegen. Sieben Hühner legten so lange fleißig Eier bis sie im Kochtopf landeten. Obst und Gemüse gedieh in dem großen Garten hinter dem Haus. Blumen schmückten den schmalen Vorgarten. So sah es bei allen Nachbarn in unserer Straße aus, die ungepflastert und staubig zur Hauptstraße führte. Ich lief diesen Weg täglich zur kleinen Dorfschule, im Sommer vorbei an den herrlich blühenden Bauerngärten, im Winter auf engen, geräumten Pfaden, an denen der aufgetürmte Schnee rechts und links oft so hoch war, dass ich nicht darüber hinweg schauen konnte.

Weil wir nur wenige Kinder waren, unterrichtete unser Lehrer zwei Jahrgangsstufen in einem Raum. Er beschäftigte die eine Klasse mit Schreibarbeiten und die andere mit Abfragen der gelernten oder auch nicht gelernten Aufgaben. Auf dem Heimweg trödelte ich immer. Ich ging auch jeden Tag in den HO-Laden und fragte nach Bananen. Die Antwort war stets: »Nein, haben wir nicht.«
Ich kannte Bananen nur vom Hörensagen. Was hätte ich nur getan, wenn die Antwort einmal gewesen wäre: »Ja, sicher, wie viele sollen es denn sein?« Ich hatte ja nicht einmal Geld bei mir.

Wie immer kam ich an jenem 6. Oktober kurz vor Mittag nach Hause. Mein Großvater stand mit dem alten Dr. Fischer, unserem Hausarzt, im dunklen Flur. Ich warf einen Blick durch die geöffnete Küchentür. Meine Großmutter hantierte nicht, wie gewohnt, am großen Kohlenherd. Was war los? Warum war der Arzt da? Ich spürte Spannung in der Luft und hörte:
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ihre Frau wird sich schnell erholen.«
»Soll ich lieber hier bleiben?«
Opas Stimme klang nervös. Ich erschrak. Was war mit Oma passiert? Wohin wollte Opa? Ich hatte zwar gelernt, dass Kinder Erwachsenen nicht ins Wort zu fallen hatten, zog aber an seinem Jackensaum, um mich bemerkbar zu machen.
»Opa!«
Niemand beachtete mich.
»Nein, nein, fahren Sie ruhig zu Ihrem Sohn.«
Opas Sohn? Mein Vater! Ich hüpfte von einem Bein auf das andere. Aber der war doch in Russland.
»Fahren wir nach Russland?«
Mein Großvater beachtete mich noch immer nicht. Mit schriller Stimme fragte ich noch einmal: »Fahren wir zu Vati nach Russland?«
»Gleich, gleich.«
Großvater begleitete Dr. Fischer an die Haustür. Als sie sich verabschiedet hatten, schaute er mich endlich an und sagte: »Komm mal mit.« Er nahm mich bei der Hand und zog mich in die Küche. »Mutti hat angerufen.«

Nur wenige Familien hatten damals ein Telefon. Meine Mutter war berufstätig und konnte von ihrem Büro aus in der Post unseres Dorfes anrufen. Das war ein Zimmerchen im Haus der Familie Märker. Frau Märker nahm den Anruf an und schickte ihre kleine Tochter los, meine Großmutter zu holen. Nach einer Viertelstunde rief meine Mutter wieder an und konnte dann mit Oma sprechen.

Meine Großmutter hatte Arthritis und das Gehen fiel ihr schwer. Trotzdem lief sie den kurzen Weg nach Hause, so schnell es ihre Beine zuließen. Kurzatmig und aufgeregt von der Nachricht, die unsere Familie derart durcheinander wirbeln sollte, konnte sie das Telefonat kaum in vernünftigen Sätzen wiedergeben. Während sie sprach, steigerte sich ihre Erregtheit noch, bis sie eine kleine Herzattacke erlitt. Deshalb war Dr. Fischer da gewesen, erfuhr ich endlich.
Und: »Dein Vater ist aus der Gefangenschaft entlassen worden. Vor ein paar Stunden ist er bei Mutti angekommen. Morgen fahren wir hin.«
Erst nach und nach begriff ich diese Mitteilung. Mit meinen acht Jahren hörte ich keine Nachrichten im Radio, und Fernsehen gab es noch nicht. Ich las auch keine Zeitung. Und was die Erwachsenen von Adenauer und Spätheimkehrern flüsterten, verstand ich sowieso noch nicht.

Meine Mutter hatte nach dem Krieg ihren Beruf in einer bäuerlichen Handelsgenossenschaft wieder aufgenommen. Heute würde man sie als Alleinerziehende bezeichnen. Meine Schwester lebte unter der Woche in einem Internat und war nur an den Wochenenden bei ihr. Ich war bei meinen Großeltern untergebracht und die Fahrt war so lang und beschwerlich, dass ich sie nicht sehr oft unternehmen konnte. Deshalb verbrachte ich meist nur die Ferien bei meiner Mutter. Meine Reise verlief dann so, dass ich am ersten Ferientag morgens gegen fünf Uhr zum Milchkannensammelpunkt in der Dorfmitte gebracht wurde, um von da mit dem Milchauto in die zentrale Molkerei zu gelangen. Dort wartete der Fahrer aus Mutters Wohnort, bis ich eintraf. Mit ihm ging die Reise dann weiter. Das Ganze war die Idee meiner Großmutter gewesen. Es war eine einfache Lösung und damals absolut sicher für ein kleines Mädchen.

Am Mittwoch, also am folgenden Tag, fuhren mein Großvater und ich aber mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu meinen Eltern. Bus, Zug, Bus. Eine quälend lange Fahrt für mich, auch wenn es kaum fünfzig Kilometer waren. Mein Großvater war, obwohl fast siebzig Jahre alt, nur selten aus seinem Dorf herausgekommen. Und nun die ungewohnte Fahrt, die Sorge um die Gesundheit seiner Frau und eine Enkelin im Schlepptau, deren Mundwerk nicht eine Minute still stand. Dazu die Anspannung, nach fast zehn Jahren seinen Sohn wiederzusehen. Ich hatte tausend Fragen und bekam nur wenige Antworten.
»Wie sieht er aus?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn auch jahrelang nicht gesehen.«
»Aber du hast ihn doch gekannt, ich nicht.«

Mein Vater war Ende 1944 in russische Kriegsgefangenschaft geraten. Damals war meine Mutter im vierten oder fünften Monat schwanger. Sie konnte nicht einmal sicher sein, ob er wusste, dass ich unterwegs war.
»Wie sah er denn aus, als du ihn zuletzt gesehen hast?«
»Du kennst doch die Fotos. Genau so.«
»Wie erkenne ich denn, dass es wirklich mein Vater ist?«
Großvater lächelte.
»Das ist sicher kein Problem. Wart's ab.«

Klar kannte ich viele Fotos von meinem Vater und in den Ferien bei meiner Mutter hatten sie und meine sieben Jahre ältere Schwester mir viele Geschichten über ihn erzählt. Die große Fotografie, die bei Oma und Opa auf der Kredenz in der Stube stand, hatte ich mir gestern Abend noch einmal lange angesehen und mir diesen fremden Mann in Uniform genau eingeprägt. Ja, wenn er die Uniform anhat, werde ich ihn erkennen, dachte ich.

Am frühen Nachmittag erreichten wir unser Ziel. Niemand erwartete uns an der örtlichen Bushaltestelle. Zu Fuß gingen wir zum Haus Schotte, einer alten Villa, in der mehrere Familien wohnten, auch meine Mutter. Sie begrüßte uns hektisch und laut mit heftigen Umarmungen und in aufgeregter Fröhlichkeit. Dann riss sie die Tür zum Wohnzimmer auf und schob mich hinein.

Alle Anwesenden schienen zu einem Standbild erstarrt. Jegliches Geräusch war verstummt. Ich stand wie festgenagelt. Meine Schwester saß zwischen zwei ziemlich korpulenten Nachbarinnen auf dem roten Plüschsofa. Mir fiel sofort auf, dass sie ihre Sonntagskleider trugen. Als nächstes registrierte ich einen hochgewachsenen, sehr dünnen Mann. Regungslos stand er vor dem grünen Kachelofen, seine schmalen Hände an die Kacheln gedrückt. Er trug eine viel zu weite schwarze Hose und einen grauen Rollkragenpullover. Er sah mich ganz ruhig an. Seine Augen waren braun und erinnerten mich an flüssige Schokolade. Noch immer fiel kein Wort. Endlich löste dieser fremde Mann seine Hände von den Kacheln und streckte beide Arme weit zu mir aus. Ich lief die wenigen Schritte auf ihn zu, als würde ich auf Schienen gezogen.

Später habe ich gehört und gelesen, Kinder und heimkehrende Väter hätten gefremdelt, wenn sie sich begegneten. Ich hatte dieses Gefühl nicht eine Sekunde. Er hob mich hoch bis sein Gesicht und meines auf einer Höhe waren. Wir schauten uns in die Augen. Ich legte meine Arme um seinen Hals und dann fiel der erste Satz, den mein Vater zu mir sagte:
»Du bist also meine kleine Tochter.« Pause. »Ich habe schon viel von dir gehört.« Pause. »Aber nichts Gutes.«
Ich verstand nicht, warum die Erwachsenen alle lachten. Später hieß es, dieser Nachsatz habe das Eis gebrochen. Mag sein. Für mich war nur wichtig, dass endlich mein Vater da war. Von Stund' an war ich eine Vatertochter, bis zu seinem Tode. Ich wich den ganzen Tag nicht von seiner Seite. Wir hatten so viele verlorene Jahre nachzuholen. Meiner Mutter und meiner Schwester ging es nicht anders. Doch das interessierte mich nicht. Ich beanspruchte meinen Vater nur für mich allein. Es war sehr spät, als man mich endlich überreden konnte, schlafen zu gehen.

Mein Großvater und ich reisten am nächsten Tag ab. Meine Eltern flohen kurz darauf „in den Westen.“ Ich selbst verließ, wieder einmal von meinem Großvater begleitet, die Heimat meiner Kindheit im April 1954 und reiste in die Bundesrepublik, die meine neue Heimat werden sollte und wurde.
Version 2

Letzte Aktualisierung: 21.02.2016 - 10.33 Uhr
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