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Heimat | Februar 2016
Schwimmen
von Sabine Esser

„Was das alles kostet!“ schimpft mein Verstand. Und er drängt und drängt: „Es geht nicht mehr. Du bist zu alt. Außerdem ist alles viel zu teuer für Dein bisschen Rente. Und vor allem, Du hast niemanden, der Dir hilft. Es ist zu teuer, Dein Leben. Du musst Dich verkleinern, dann mag es noch ein paar Jahre gehen.“

Heute habe ich mir das Zimmer mit dem pflegeleichten Kunststoffboden angesehen. Teppiche sind nicht erlaubt, man könnte stolpern. Für mich bezahlt der Staat nur ein Zweibettzimmer. Für eigene Möbel ist kaum Platz. Das Essen riecht nach Kantine. Alles ist dort so steril.

Ich will da nicht hin! Ich will in meinem eigenen Bett schlafen, nicht in der höhenverstellbaren Normgröße. Ich will auch keine schnarchende oder redende oder gar sterbende Zimmergenossin haben. Ich will mein Fernsehprogramm nicht teilen müssen. Und immer noch möchte ich meine Musik hören. Und ich will nachts lesen, so lange ich will. Mit der Leselampe einschlafen. Und ich will gutes Essen. Ich will da nicht hin. Niemals!

Mit dem Taxi fahre ich zurück nach Hause.

Das alte Backsteinhaus begrüßt mich rotschimmernd nach meinem Ausflug. Heimat fühlen erleichtert meine Finger, wenn sie über den rissigen, alten Backstein mit den ausgewaschenen Fugen streicheln. Heimat liebkosen meine Augen die sonnenwarmen Steine und die verwitterten grünen Holztore, von denen die Farbe bei jeder Berührung absplittert.

Ich setze mich erschöpft auf die alte Gartenbank, blicke in den alten Boskoop und atme tief durch: „Nichts wird so heiss gegessen, wie es gekocht wird. Beruhige Dich!“ Das stimmt, ich muß mich beruhigen, ich koche langsam einen dünnen Tee und setze mich wieder nach draußen. Der Tee ist etwas bitter, das macht nichts. Ein bisschen Honig hilft immer.

In der warmen Spätnachmittagssonne schweifen meine Blicke müde über den Garten und die alte Scheune mit dem Eulenloch in der Wand. Ja, die Entsorgung vom Eternit wäre zu teuer gewesen, ich erinnere mich gut. Ich weiß, dass in der Scheune Fledermäuse leben, in der frühen Dämmerung fliegen sie wie gaukelnde Schwalben im Garten herum. Schade, Schwalben haben nie ihre Nester bei uns gebaut. Draussen war es ihnen wohl zu nass und die Dachüberstände zu kurz. Im Haus aber flatterten sie in fast jedem Frühjahr aufgeregt schwatzend herum, saßen auf der Küchentür und auf den Balken in der hohen Halle, und wir hatten unsere liebe Mühe, sie nach draußen zu scheuchen. Nächsten Frühling muss ich dran denken, die Türen geschlossen zu halten. Nächsten Frühling?

Die Rosen neben mir blühen und duften. Sie leben immer noch, trotz des scharfen Frostes vor vielen Jahren. Ich hatte große Angst um sie, damals. Das viele Unkraut muß aber raus, sie brauchen Luft. Gleich morgen muß ich damit beginnen. Morgen?

Im Obstgarten tragen die Bäume. Vor vielen Jahren haben wir sie gepflanzt. Ich kenne jedes ihrer Wehwehchen. Auch das eine Große, als ich mit dem Rasenmäher die kleine Birne so schwer verletzte. Sie lebt immer noch – mit einem dicken Knubbel am Stamm. Wenn ich unter den Bäumen entlang gehe, begrüße ich jeden einzelnen, streichele seine jugendliche Rinde: „Na, Freundchen, übernimmst Dich nicht?“ oder „Meine Schöne, geht es Dir gut?“ oder „Meine Süße, dieses Jahr trägst Du mal wieder“. Der junge rote Boskoop ist vorwitzig, er will mehr als er kann. Ich muss ihm etliche Äpfelchen abknipsen, gleich morgen. Sonst brechen die Äste. Morgen?

Wie kann ich mich von ihnen trennen? Ich habe sie gehütet so viele Jahre. Und sie haben es mir immer gedankt.

Wie soll ich leben ohne den weiten Blick über die Felder? Wie soll ich leben ohne die Mischung von Gülle und salziger Luft, die meine Nase noch immer so gern schnuppert? Was sollen all‘ die Vögelchen machen, wenn ich sie im Winter nicht mehr füttere?

Es wird allmählich kühl auf der Gartenbank. Ich mag nicht aufstehen, meine Beine sind zu schwer. Lieber in den Spätsommerhimmel schauen.

Wie soll ich leben ohne meinen Himmel? Mal strahlendblau, meistens matt opalfarben wie das Innere einer Muschel. Mal drohend düster mit jagenden Wolken. Mal nachtschwarz von Sternen übersät. Und wie oft einfach nur Hellgrau hinter Dunkelgrau, mit kleinen flüchtenden Wolken. Ich stehe häufig am Küchenfenster und wünsche immer, ich könnte malen.

Wie soll ich leben ohne mein Meer? Bei Ebbe und Westwind blähen sich immer noch meine Nasenflügel, um den modrig-algigen Duft des Watts ganz und gar zu erfassen. Es duftet so schön.

Plötzlich ist Flut. Ich stehe voller Vorfreude mit geschlossenen Augen auf dem Deich: „Gleich sehe ich sie“. Der Wind mit all‘ seinen Düften versalzt mich schon jetzt. Ich öffne mühsam die Augen; ich sehe sie, meine Nordsee, graugrün schimmernd. Ich kann es nicht erwarten, ganz schnell zu ihr zu laufen, noch mehr Salz auf den Lippen, die Haare kleben schon. Oh, wie liebe ich diesen Wind, der mir Salz und Sand ins Gesicht weht und die Brille verkleistert!

Ich nehme sie ab, werfe sie fort, fühle mich nackt und jung und frei. Der Wind nimmt zu, es beginnt sanft zu regnen. Sommerregen. Ich breite schon auf dem Deich die Arme aus, um ihn zu empfangen, ihn zu spüren, ein Vorgeschmack auf das Wasser. Wie kraftvoll meine Beine laufen! Das Wasser umspült mich ganz und gar, ich schwimme nackt bei Regen im Meer, tupfe das Süßwasser mit der Zunge von den Lippen. Ist das herrlich, ich schwimme in das gleissende Rot der Abendsonne! So viel Kraft hatte ich lange nicht mehr. Ich muß nur dem Licht folgen. Ich schwimme in mein neues Leben.

Letzte Aktualisierung: 22.02.2016 - 17.26 Uhr
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