Diese Seite jetzt drucken!

Heimat | Februar 2016

Abseits
von Barbara Hennermann

Es ist nur eine ganz gewöhnliche Parkbank. Drei Bohlen quer für die Sitzfläche, zwei rückwärts zum Anlehnen, aufgeschraubt auf ein Gestell aus Gusseisen. Der grüne Lackfarbenanstrich blättert an mehreren Stellen ab. Eine von Hunderten, Tausenden, die in Parks zu finden sind. Sie hat noch nicht einmal eine Plakette mit dem netten Spruch „gespendet von ...“. Das einzige, was sie von den anderen Parkbänken hier abhebt, ist ihr Standort. Diese Bank nämlich steht etwas abseits in einer Art Rondell, umgeben von Büschen, die sie vor neugierigen Blicken schützt. Der ideale Rückzugsort für verliebte Pärchen oder Ruhesuchende ...

Torben entdeckte die Bank durch Zufall auf einem seiner ausgiebigen Streifzüge durch die Stadt. Für so etwas hatte er Zeit, mehr als genug sogar. Immer, wenn er in eine neue Stadt kam, erforschte er sie, suchte nach brauchbaren Plätzen und erträglichen Menschen. Viele Städte hatte er so kennengelernt, nirgends war er dauerhaft geblieben. Nun also diese Stadt. Diese Bank. Sofort war ihm klar geworden, dass dies ein besonderer Platz war. SEIN Platz.

Natürlich wusste er, dass ihm die Bank nicht allein gehören konnte. Immerhin war es ein öffentlicher Park, ein öffentlicher Platz. Tagsüber hielt er sich da auf, wo sich alle aufhielten – unter der großen Brücke, am Marktplatz und manchmal auch im Heim der AWO. Dort konnte er duschen und ab und zu nutzte er die Gelegenheit für eine warme Mahlzeit. Einmal im Monat besuchte er das Sozialamt und holte sich seine „Stütze“ ab. Ihm reichte, was er bekam, zum Leben. Mehr war er auch nicht gewöhnt nach einer Kindheit im Heim und Jahrzehnten auf der Straße. Längst hatte er es aufgegeben, nach Gelegenheitsjobs zu suchen - zu oft war er dabei um sein Geld geprellt worden. Betteln in der Innenstadt, wie viele andere Obdachlose es taten, war ihm zuwider. Denn wenn er auch ein anderes Leben führte als die meisten, die ihm begegneten, so hatte er seine Würde als Mensch immer erhalten wollen und verabscheute es, sich herabsetzenden oder auch mitleidigen Blicken und Gesten auszusetzen. Von kleinst auf war er ja daran gewöhnt, sich selbst als Gesellschaft zu genügen und darum verspürte er auch keine Einsamkeit.
Deshalb hatte die Bank auch einen so hohen Wert für ihn. Wenn er am Morgen die Nacht in seine drei Plastiktüten verpackte und an das klapprige Fahrrad, das ihm seit Jahren Mobilität verlieh, hängte, dann spürte er bereits die Vorfreude auf den kommenden Abend. Da würde er wiederkommen und sein ganz persönliches Nest richten, das ihn aufnehmen und schützen würde. Selbst im Winter, wenn der Frost die Berber von den Straßen vertrieb, blieb er möglichst lange da draußen, hüllte sich in alte Decken und polsterte die Bank mit Zeitungen, die er aus dem Papiercontainer fischte. Zum Glück gab es nur wenige Nächte, wo die Kälte zu beißend wurde und er wie die anderen wärmere Plätze aufsuchen musste.

Es hatte sich im Lauf der Zeit herumgesprochen in der Stadt, dass da einer diese Bank im Park in den Nächten für sich beanspruchte. Und es schien die Menschen anzurühren. Denn wie nach einer geheimen Absprache blieb sie jeden Abend unbesetzt. Sobald die Dämmerung das Ende des Tages anzeigte, war das Rondell frei von Besuchern. Ab und zu war hinter den Büschen ein Flüstern zu vernehmen, wenn Spaziergänger vor allem in lauen Nächten den Park durchquerten und sich darüber unterhielten, was für ein Mensch das wohl sein mochte, der das Rondell mit der Parkbank zu seinem Schlafzimmer gemacht hatte. Nie jedoch versuchte einer, weder von den Obdachlosen noch den anderen Mitbürgern, ihm seinen Platz streitig zu machen. Für Torben war es selbstverständlich geworden, dass er mit der untergehenden Sonne sein Rad zu seinem Domizil schieben und sein Nachtlager richten konnte. Wenn die Jahreszeit es zuließ, streckte er sich auf der Bank aus und seine Gedanken reisten weit weg in den Sternenhimmel. Bei Regen schlüpfte er unter die Plastikplane, die zu seinen Utensilien unverzichtbar dazu gehörte, und die Regentropfen erzählten ihm Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Aber wie auch immer Wetter und Jahreszeit sich gerade darstellten – immer erfüllten ihn Freude, Zufriedenheit und Entspannung schon, wenn „seine“ Bank von Ferne in seinen Fokus rückte.


Der Junge war schmächtig, mit schmalen Schultern und wuscheligen Haaren. Wie alt er wohl sein mochte? Sechzehn oder siebzehn vielleicht? In dem dunkelhäutigen Gesicht leuchteten die Augen wie zwei Fixsterne.
Torben sah ihn schon von weitem, als er sein Rad durch den Park schob.

Der Junge saß auf der Bank. Auf SEINER Bank ...

Torben blieb stehen, überlegte. Sicher war es einer der Fremden, die neuerdings so zahlreich in die Stadt gekommen waren. Einer, der heimatlos war. So wie er es lange Zeit gewesen war, bevor er die Bank gefunden hatte. Torben wusste, wie sich das anfühlt. Der Junge tat ihm leid. Weiß Gott, wo er herkam und was er schon durchgemacht hatte?
Andererseits – es war nun einmal so, wie es war, und die Bank gehörte ihm! Zumindest nachts. Jeder wusste das hier. Jeder respektierte es. Der Junge musste sich eine andere Bleibe suchen ... Das musste er ihm klarmachen.

Langsam stellte Torben das Rad neben der Bank ab und blickte auf den Jungen herunter. Der blieb still sitzen, hob nur den Kopf und die leuchtenden Augen verfolgten jede Bewegung Torbens. Torben räusperte sich. „Junge, du kannst hier nicht bleiben.“ Keine Reaktion.
Ja nun, das hätte er sich denken können. Natürlich verstand der Bursche kein Deutsch.
Torben hatte in seinen bisherigen Lebensjahren weder den Wunsch noch die Gelegenheit zu viel Kommunikation gehabt. Die Situation beunruhigte ihn. Er setzte abermals an: „Äh ... Junge ... du hier nix bleiben ... kapee ...?“ Er kam sich selbst ziemlich blöd vor mit seinem Kauderwelsch. Der Junge rührte sich nicht, aber seine Augen blickten hellwach.
Torben war sich im Klaren darüber, dass er seine Strategie ändern musste. Entschlossen fasste er den Jungen an der Schulter. Wie von der Tarantel gestochen schoss der in die Höhe, sein bisher unbewegtes Gesicht verzerrte sich, in seiner Faust blitzte etwas metallisch auf. Torben reagierte blitzschnell so, wie es ihn sein Leben gelehrt hatte: Mit der einen Hand drückte er den Jungen auf die Bank zurück, mit dem anderen Arm nahm er ihn in den Würgegriff. Ein Messer fiel scheppernd zu Boden. Der Bursche war so schmächtig und klein, dass ihm auch seine heftige Gegenwehr nichts nutzte. Nach wenigen Minuten hing er schlaff in Torbens Arm. Der ließ den schmalen Körper auf die Bank zurückgleiten. Die Augen waren verdreht, die weißen Augäpfel glänzten blicklos in dem dunklen Gesicht.

Torben packte die Angst, er schüttelte den Fremden. „Ey, Junge, wach auf!“ Die schmächtige Gestalt bewegte sich nicht. Panik stieg in Torben auf. Das konnte doch nicht sein! Er hatte den Jungen doch nur abwehren, beruhigen wollen! Warum hatte der sich auch ausgerechnet seinen Platz aussuchen müssen? „Ich musste mich doch verteidigen, Junge!“ Er schob das Messer am Boden mit dem Fuß zur Seite. Es war ein mickriges Taschenmesser, das sah Torben jetzt auch. Aber wie hätte er es vorher wissen sollen?

Verzweifelt fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare. Das konnte nicht wahr sein. Das musste ein Albtraum sein – hier, an seinem Rückzugsort, seinem sicheren Zuhause .... Schlagartig wurde ihm klar, dass der Platz diese Sicherheit nun verloren hatte. Das Heimatgefühl war zerstört. Wieder würde er, Torben, heimatlos sein. Keine Vorfreude auf den Abend, kein Wiederkommen, kein Platz im Leben für ihn allein ....
Der Junge hatte es sicher nicht besser gewusst. Nicht das, dass er Torben etwas wegnahm, ihm den erwarteten, gewohnten, selbstverständlich gewordenen Respekt verweigert hatte ....
Torben sah mit Tränen in den Augen auf die reglose Gestalt herab. „Ach Junge, warum hast du mich mein Leben nicht einfach leben lassen?“ Trauer und Schmerz hüllten ihn ein wie eine schwarze Decke aus Blei. Trauer und Schmerz über sein eigenes, verlorenes Leben.
Ohne einen weiteren Blick auf den Jungen zu werfen packte er sein Rad und schob es aus dem Rondell. Er wusste, dass er diesen Ort, diese Stadt, verlassen musste und nie wiederkommen würde.



Rasselnd füllten sich seine Lungen mit Sauerstoff. Der Junge setzte sich schwer atmend auf, rang nach Luft. Was war geschehen? Er wusste es nicht. Sein Taschenmesser lag am Boden, sein einziger Besitz! Rasch steckte er es in die Hosentasche und blickte sich um.
Was für ein schöner Platz! Hier würde er jetzt öfter herkommen, wenn ihm in der überfüllten Flüchtlingsunterkunft das Atmen schwer und das Heimweh unerträglich wurde ...


hb V2 02/16

Letzte Aktualisierung: 23.02.2016 - 10.20 Uhr
Dieser Text enthält 8805 Zeichen.


www.schreib-lust.de