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Heimat | Februar 2016

Der Verstand sagt ja. Das Herz sagt nein.
von Reiner Pörschke

„Und was machen Sie beruflich?“
„Ich bin Bankangestellter.“
„Macht Ihnen das Spaß?“
„Sehr.“
„Warum?“
„Ich liebe Zahlen.“
„Gibt es dafür einen Grund?“
„Zahlen sind verlässlich. Schon in der Schule mochte ich Mathematik.“
„Wie sieht Ihre Arbeit genau aus? Ich meine, sind Sie im Publikumsverkehr tätig?“
„Nein, nein. Ich rechne in schwierigen Fällen Restschulden der Kreditnehmer aus.“
„Sind Sie darin gut?“
„Ich denke schon. Mein Arbeitgeber hat sich noch nie beschwert.“
„Sind Sie immer konzentriert, machen Sie keine Fehler?“
„Na ja, in letzter Zeit kann ich mich nicht mehr so gut konzentrieren. Deshalb bin ich ja hier.“

„Sind Sie verheiratet?“
„Ja, seit 30 Jahren.“
„Glückwunsch! Und sind Sie glücklich verheiratet? Ich meine, lieben Sie Ihre Frau noch immer?“
„Meine Frau ist mir sehr wichtig.“
„Inwiefern?“
„Sie ist mein Halt.“
„Fühlen Sie sich ohne sie haltlos?“
„Ich denke schon.“
„Haben Sie noch Sex mit Ihrer Frau?“
„Ja.“
„Auch in letzter Zeit?“
„Natürlich nicht. Sie wissen doch schon, dass ich nachts nicht schlafen kann und Angstzustände bekomme. Das geht auf die Libido.“
„Haben Sie deswegen Schuldgefühle gegenüber Ihrer Frau?“
„Meine Frau hat es verdient, dass ich sie glücklich mache.“

„Wo wohnen Sie? Ich meine, wohnen Sie in einer ruhigen Gegend?“
„Ja, sehr ruhig. Wir sind erst vor zwei Monaten umgezogen.“
„Nach Ihrem Umzug hatten Ihre Beschwerden begonnen, haben Sie mir erzählt. Sehen Sie da einen Zusammenhang?“
„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“
„Beschreiben Sie Ihr jetziges Zuhause!“
„Nun ja, wir wohnen sehr ruhig und altersgerecht.“
„Was heißt das?“
„Wir haben einen Aufzug und das Krankenhaus ist direkt gegenüber. Geschäfte sind in der Nähe. Es gibt sogar einen Park, wo ich joggen kann.“
„Joggen Sie?“
„Bisher nicht.“
„Aber es ist Ihnen wichtig?“
„Nein, nein, ich wandere lieber.“
„Haben Sie dazu oft Gelegenheit?“
„Ich bin mit meiner Frau in einem Wanderverein, und im Urlaub wandern wir auch.“
„Wo verbringen Sie Ihren Urlaub?“
„Wir fahren immer in denselben Ort in Süddeutschland.“
„Ist Ihre Frau damit einverstanden?“
„Ich denke schon.“

„Warum hatten Sie sich zu dem Umzug entschlossen?“
„Weil ich meiner Frau das alte Umfeld nicht länger zumuten konnte.“
„Inwiefern?“
„Es war laut. Die Straßenbahn fuhr direkt an unserem Haus vorbei. Auch in dem Haus war es laut.“
„In Ihrem Haus?“
„Ja, wir hatten junge Leute in der Nachbarschaft, die haben gerne mal gefeiert.“
„Hat Sie das gestört?“
„Nein.“
„Hatten sie dort schon Schlafstörungen?“
„Nein. Niemals.“
„Aber Sie sind dennoch umgezogen?“
„Meine Frau konnte das nicht länger ertragen.“
„Was? Den Krach?“
„Nicht nur.“
„Was noch?“
„Nach acht ging man besser nicht mehr auf die Straße.“
„Warum?“
„Na ja, die Bismarckstraße ist halt kein Nobelviertel. Es gab schon mal Schlägereien, wenn die Leute einen über den Durst getrunken hatten. Im Nebenhaus war eine Kneipe.“
„Das hat Sie nicht gestört?“
„Für meine Frau war es schlimmer. Sie ging nicht mehr in den Chor, obwohl ich sie hinterher abholen wollte.“
„Gab es noch etwas, das Ihre Frau gestört hat?“
„ Beim Nachbarn wurde eingebrochen, und sie hatte Angst, das könnte auch uns passieren.“
„Wie lange haben Sie dort gewohnt?“
„Über 30 Jahre. Ich kannte jeden Meter, die Läden, die Leute, kannte jede Straße in der Umgebung“
„Das hat Ihnen gefallen?“
„Oh ja, sehr.“
„Würden Sie Ihre alte Wohnung und die Umgebung als Ihre Heimat bezeichnen?“
„Ich glaube schon.“
„Würden Sie am liebsten wieder zurückziehen?“
„Die Frage stellt sich nicht.“
„Wieso?“
„Ich liebe meine Frau. Das sagte ich doch schon. Außerdem ist es sehr vernünftig, dort zu wohnen, wo wir hingezogen sind.“
„Auch wenn Sie krank geworden sind?“
„Ich muss mich eben zusammennehmen.“

„Das sagt sich so leicht. Wie Sie sehen, lässt sich der Körper nicht allein vom Willen dirigieren. Sie leiden an Heimatverlust, auch wenn Ihr neues Domizil nicht allzu weit von Ihrem alten Zuhause liegt. Heimatverlust kann psychisch krankmachen, das haben auch Andere nach solchen Umzügen schon erlebt.

Wir schauen, dass wir das in den Griff bekommen, doch es kann langwierig sein. Eine stationäre Behandlung haben Sie abgelehnt, und ich würde sie in Ihrem Fall auch nicht befürworten. Bleiben Medikamente, die heute schon sehr wirksam sind. Ich stelle Ihnen ein Rezept aus. Vor allem ist aber wichtig, dass Sie lernen, mit Ihrer neuen Umgebung zurechtzukommen.

Sie machen mir einen sehr erschöpften Eindruck! Möchten Sie ein Glas Wasser? Wir haben im Wartezimmer einen Getränkeautomaten.
Wir sehen uns dann nächste Woche wieder. Lassen Sie sich vorne einen neuen Termin geben.“

Letzte Aktualisierung: 22.02.2016 - 10.26 Uhr
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