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Heimat | Februar 2016

Vorwärts zurück
von Sarina Stützer

Kiara versuchte zu schreien, als eine Hand ihren Arm packte und sie hinter einen Karren zog, doch sie brachte nur noch ein Krächzen zustande. Sie war auf der Flucht durch die ganze Stadt gerannt, ihre Verfolger immer kurz hinter sich. Noch bevor sie wieder Luft in ihre brennenden Lungen pumpen konnte, legte sich eine Hand über ihren Mund.
„Kiara, du darfst jetzt nicht schreien.“
Die Stimme kam ihr bekannt vor. Sie wand sich, bis sie das Gesicht ihres Häschers sehen konnte. Ihre Augen weiteten sich, als sie ihn erkannte, und er ließ sie los.
„Ben!“ Mehr brachte sie nicht heraus.
Ben legte einen Finger auf seinen Mund und spähte hinter dem Karren hervor. „Sie scheinen aufgegeben zu haben“, flüsterte er. „Jedenfalls für heute.“
„Ben, was machst du hier? Willst du die Belohnung ...“ Kiara verstummte, als sie Bens Blick sah. „Entschuldigung. Ich weiß nicht mehr, wem ich noch trauen soll.“
„Außer mir niemandem“, entgegnete er. „Deshalb musst du die Stadt verlassen. Für immer.“
Vorsichtig zog er sie hinter sich her zwischen den Wagen, Herden und Käfigen des Viehmarkts hindurch. Ihren Versuch, ihn anzusprechen, wehrte er mit einem stummen Kopfschütteln ab. Als er sie in die engen Gassen führte, die sie auf ihrer Flucht durchquert hatte, zögerte sie kurz, dann folgte sie ihm. Sie hatte sowieso keine andere Wahl. Immer im Schatten, jede Türöffnung ausnutzend führte er sie weiter. Vorsichtig öffnete er eine Tür und kurz darauf standen sie in einer winzigen Kammer, die außer einem Bett und einer Kiste nichts enthielt. Kiara stolperte auf das Bett zu und sank darauf zusammen. Keinen Schritt würde sie heute mehr laufen können, selbst wenn der Scharfrichter persönlich vor ihr stünde. Sie vergrub das Gesicht in den Händen.
„Was habe ich ihnen getan? Warum wollen sie mich umbringen? Jedes tote Huhn, jedes kranke Kind, jedes geplatzte Geschäft – an allem bin ich schuld. Warum?“
Ben setzte sich neben sie. „Du bist anders. Du bist nicht von hier, und das sieht man. Deine Haut ist heller, deine Augen sehen anders aus, deine Wangenknochen sind höher, deine Nase ist breiter ... Du sprichst anders.“
„Und du? Warum hilfst du mir? Warum willst du mich nicht töten?“
„Ich habe gelernt, auf den Menschen zu sehen und nicht auf die Hülle.“ Ben sah auf den Boden. „Es hat mich viel gekostet, bis ich es konnte.“ Er richtete sich auf und sah sie an. „Du musst nach Hause, in deine Heimat. Hier werden sie dich töten.“
Kiara zögerte. Nach Hause ... Sie hatte so vieles hinter sich lassen wollen, als sie damals weggegangen war.
Ben stand auf. „Ruh dich ein bisschen aus. Ich hole deine Sachen vom Hof und bringe Wasser mit. Geh auf keinen Fall hinaus.“ Schon war er verschwunden.
Kiara legte sich auf das Bett und blickte zur Decke. Die Kammer hatte nur einen schmalen Schlitz als Fenster, durch den kaum Licht hineinfiel. Ihre Augen wurden in dem Maße schwerer, wie ihr Atem ruhiger wurde. Sie wollte nicht schlafen, sie musste wach bleiben, damit sie hören konnte, falls jemand eintrat. Sie wollte nicht kampflos aufgeben.
Kiara schreckte hoch, als die Tür sich öffnete. Ihre Augenlider schienen mit Gewichten beschwert, sie musste doch eingeschlafen sein. Zum Glück war es Ben, der, mit einem Bündel beladen, die Kammer betrat. Erleichtert sank Kiara auf das Kissen zurück. Einfach liegenbleiben ...
„Kiara, wir müssen los!“ Er hielt ihr einen Krug hin. „Trink erst einmal etwas.“
Erst jetzt bemerkte Kiara, wie ausgetrocknet sie sich fühlte. Sie setzte den Krug an und trank ihn in einem Zug leer. Sie fühlte sich, als hätte sie einen Tropfen Wasser in einer Wüste ausgegossen, und wünschte sich noch viel mehr von der kühlen Flüssigkeit.
Ben hatte das Bündel neben sie aufs Bett gelegt. „Hier, du musst aussortieren, was du mitnehmen willst.“
Verständnislos starrte Kiara auf die Gegenstände, die aus dem gefalteten Tuch zum Vorschein kamen. Nur langsam wurde ihr Kopf klarer. Ben hatte schon begonnen, die Kleidung in zwei Haufen aufzuteilen.
„Der Mantel, ein Wams, ein Kopftuch, mehr kannst du nicht mitnehmen“, entschied er. „In deiner Heimat kannst du dich um neue Kleidung kümmern.“
Immer noch wie in Trance griff Kiara nach einzelnen Gegenständen, die aus dem Bündel gefallen waren. Ein Buch, eine kleine Puppe, ein Medaillon. Langsam wurde ihr Verstand klarer. Sie würde alles hierlassen müssen. Wie sie damals alles hinter sich lassen wollte, als sie fortgegangen war, und trotzdem diese Erinnerungen mitgenommen hatte. Ben nahm das Buch in die Hand.
„Du kannst lesen.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Ein weiteres Mosaiksteinchen, das sie von den anderen unterschied. Ihr war es immer bedeutungslos vorgekommen, aber an Bens Gesichtsausdruck sah sie, dass es das für die Leute hier nicht war. Kurz wunderte sie sich, dass noch niemand vor Ben ihre Sachen geholt hatte. Wahrscheinlich dachten sie, dafür sei noch genug Zeit, wenn sie erst tot war.
Langsam wurde Kiara wieder klarer. Woher sie die Energie für eine neue Flucht nehmen sollte, wusste sie zwar nicht, aber sie wusste, dass sie leben wollte. Sie stand auf und umarmte Ben, dem sie nur bis zu den Schultern reichte. Die meisten Menschen hier waren einen Kopf größer als sie.
„Danke“, flüsterte sie.
Ben drückte sie kurz an sich, dann packte sie ihr Bündel. Außer der nötigsten Kleidung würde sie alles hierlassen. Als sie fertig war, schlug Ben den Rest in ein Tuch und nahm es unter den Arm. „Ich muss es außerhalb der Stadt verstecken“, sagte er auf ihren fragenden Blick hin. „Hier darf es niemand finden.“
Es dämmerte, als sie die Kammer verließen. Die Dunkelheit würde sie schützen, aber wie sollten sie durch die Stadttore kommen? Wieder blieb Kiara nichts übrig, als Ben zu vertrauen. Er führte sie bis zur Abortgrube. Vor einem dichten Gebüsch blieben sie stehen.
„Jetzt müssen wir auf den Knien weiter. Am besten, du folgst mir.“
Während sie sich durch das Gebüsch und dann durch einen Spalt in der Stadtmauer zwängten, wunderte sich Kiara, dass sie mehr als zehn Jahre hier gelebt hatte, ohne jemals von diesem Durchgang zu ahnen. Sie fragte sich, wer noch davon wusste, und hoffte, dass auf der anderen Seite niemand auf sie wartete.
Bis sie den Wald erreicht hatten, war es dunkel. Kiara fragte sich, wie Ben den Weg fand. Offensichtlich gab es vieles, dass sie von dem Ort und den Menschen, mit denen sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hatte, nicht wusste.
Auf einer Lichtung an einem Bach machten sie eine Pause. Inzwischen war der Mond aufgegangen, Vollmond, wie Kiara halb unbewusst registrierte. Sie setzte sich auf einen Stein und hielt ihre schmerzenden Füße ins Wasser. Ben machte sich an einem Baum zu schaffen. Als er sich aufrichtete, hatte nicht mehr das Bündel mit ihren Sachen in der Hand, sondern ein anderes. Er zeigte ihr den Inhalt.
„Ein Wasserschlauch, etwas Brot, Käse, Trockenfleisch“, sagte er. „Du musst sparsam damit umgehen.“ Aus seinem Hemd holte er ein zusammengeknotetes Tuch. „Noch etwas Brot und Käse, das können wir jetzt essen, damit du nicht sofort an deine Vorräte musst.“
Kiaras Augen füllten sich mit Tränen. „Du hast an alles gedacht. Ich verdanke dir mein Leben!“
„Wenn du jetzt zusammenbrichst, wirst du es nie schaffen“, meinte Ben trocken, und Kiara rieb sich hastig über die Augen. „Erzähl mir lieber, wie es dort ist, wo du herkommst. Du hast nie davon geredet.“
Kiara starrte ins Wasser. Wie sollte sie etwas beschreiben, was ihr selbstverständlich vorkam?
„Es ist nicht so heiß und staubig wie hier“, sagte sie langsam. „Die Leute sind kleiner als hier, mehr wie ich.“ Sie verstummte. Wie sollte sie erklären, dass die Menschen dort offener waren, neugierig, leicht mit Fremden ins Gespräch kamen? Dass alle dort die Wörter so aussprachen wie sie, mit weichen Wortendungen, die ineinander übergingen, in einem singenden Tonfall.
„Ich wünschte, du würdest mitkommen“, seufzte sie. „Dann könntest du es selbst erleben.“
Ben antwortete nicht. Kiara wusste, dass er hier verwurzelt war. Er würde sich in ihrer Heimat genauso fremd fühlen wie sie hier. Sie hoffte, er würde keine Probleme bekommen, weil er ihr geholfen hatte.
Plötzlich erfasste sie eine Sehnsucht nach zu Hause, wie sie sie noch nie gefühlt hatte. Sie wollte nicht mehr die andere sein, die nicht dazugehörte. Zwar etwas Besonderes, aber immer eine von außen. Sie wollte dort sein, wo man sie verstand, wo man über dieselben Dinge lachte und ihr Tonfall normal war. Wo alle aussahen wie sie, und wo es egal war, falls doch jemand anders aussah. Dafür würde sie ihren Stolz hinunterschlucken müssen. Wie hoch sie ihren Kopf getragen hatte, als sie in die Fremde aufgebrochen war, gegen den Rat ihrer Eltern und aller Bekannten und Freunde. Sie hatten recht gehabt, das musste Kiara jetzt zugeben. Aber was war schon ein bisschen Stolz gegen den Tod für Dinge, die sie nicht getan hatte.
Kiara stand auf, und auch Ben erhob sich. Sie standen sich gegenüber und sahen sich in die Augen. Dann schloss Ben Kiara in die Arme und drückte sie so fest, dass sie meinte, keine Luft mehr zu bekommen. Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück.
„Machs gut“, sagte sie leise.
„Vielleicht reise ich mal in deine Gegend und besuche dich, wenn ich hier wegkann.“
Kiara nickte, obwohl sie wusste, dass das nie geschehen würde. Ben würde heiraten, einen Hof übernehmen und ein geachtetes Mitglied des Ortes sein.
Sie atmete tief ein, wandte sich ab und ging los. Nach Hause, in die Heimat, zu ihrer Familie. Sie drehte sich kurz um und winkte Ben zu, der ihr nachsah.
Neue Energie durchflutete sie und zügig schritt sie aus. Nach Hause. Plötzlich konnte sie es kaum erwarten.

Letzte Aktualisierung: 17.02.2016 - 07.14 Uhr
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