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Heimat | Februar 2016

Immer hier
von Raphaël Gensert

„Zum Flughafen“, sagte die Frau und schloß die Tür. Sie machte einen gehetzten Eindruck. Said fuhr los. Zum Flughafen war es ein ziemliches Stück, die Fahrt würde etwa eine halbe Stunde dauern, aber sie würde sich lohnen. Für einen Freitnachmittag war noch nicht viel Verkehr. Das würde sich bald ändern.
„Wo soll’s denn hingehen?“, fragte Said.
„Nach Oslo.“ - „Oh, Oslo“, sagte Said und tat so, als kenne er sich aus. „Oft kalt, da. Was machen Sie in Oslo?“
„Ich lebe da“, sagte die Frau. „Schon seit fast 20 Jahren. Erst die Arbeit, dann die Liebe.“ Sie schien diesen Gedanken nicht zuendeführen zu wollen und schaute etwas sehnsüchtig aus dem Fenster. Er sah es im Rückspiegel. „Und warum waren Sie hier?“ Said fuhr auf die Autobahn.
„Heimatbesuch“, sagte die Frau tonlos. „Aber ich merke immer wieder, daß ich hier nicht mehr hingehöre. Meine Eltern haben mir das nie verziehen. Mir ist das alles hier so fremd geworden.“ Sie schwieg eine ganze Weile nachdenklich und setzte dann fort: „Wenn ich ehrlich bin, weiß ich gar nicht, wieso ich überhaupt hier war. Es ist schön, aber ich bin immer froh, wenn ich wieder zu Hause bin.“
Sie waren fast da. Links von der Autobahn waren bereits die ersten Gebäude des Flughafens zu erkennen. „Also ist Oslo jetzt Ihre Heimat?“, fragte Said. Der Taxistand lag direkt vor Terminal 1.
„Meine Heimat ist das hier. Oslo ist mein Zuhause, nicht meine Heimat. Das ist ein Unterschied.“
Said hielt den Wagen und half ihr mit den Koffern. Sie nahm den Flieger um zehn nach sieben.
Ein dankbarer Standort ist der Flughafen eigentlich nicht. Zuviele Taxis für zuwenige Leute, aber wer ohnehin gerade jemanden absetzt und erkennbar frei ist, kann Glück haben. Said hatte Glück. Eine Frau mittleren Alters trug nur eine Reisetasche bei sich und stieg ein. „Grüß Gott“, sagte sie knapp mit hörbarem Einschlag. „Fahren’s zum Hauptbahnhof, bitt’schön.“ Said schielte kurz in den Rückspiegel.
„Sind Sie aus Bayern?“, fragte er.
„Mei, vom Tegernsee. Und eigentlich schon lange hier, aber so recht habe ich mich immer noch nicht eingewöhnt. Ich kriege diesen Äppelwoi nicht runter.“ Dabei lachte sie kurz.
Said verließ die Autobahn am Südanschluß und bog in die Mörfelder Landstraße Richtung Norden. Es war eine gängige Strecke, die er schon unzählige Male gefahren war. Er kannte die Stadt inzwischen wie seine Westentasche, und es kam ihm vor, als sei er nie woanders gewesen als hier. Ihm waren die Sitten und die sprachliche Färbung der Leute hier ebenso vertraut wie der Äppelwoi. Er kam sich irgendwie überlegen vor. Er war hier eher zu Hause als diese Frau, obwohl er doch das war, was sie einen „Ausländer“ nannten.
„Sind Sie eine Fremde?“, fragte er seinen Fahrgast. An sich eine überflüssige Frage, aber ihm fiel keine andere ein.
„Wenn man so will, schon. Hier schaut alles anders aus als bei mir daheim. Man spricht hier anders.“ Das selbe hätte Said auch von ihr behaupten können. „Meine Heimat wird das hier nie.“ - „Meine auch nicht, aber ist Zuhause“, sagte Said und überquerte damit die Friedensbrücke. Die Frau sagte nichts mehr und stieg am Hauptbahnhof aus. Für einen Moment lang dachte Said selbst über sein Verhältnis zu seinem neuen Zuhause nach. So richtig hatte er das noch nie. Daß er nun ausgerechnet hier als Taxifahrer unterwegs sein würde, hätte er früher auch nie gedacht. Den Deutschen möchte er sehen, der sich trauen würde, in Bagdad einen Taxischein zu machen. Lächerlich!
„Frei?“ Ein südländisch aussehender Mann mit Schnurrbart steckte seinen Kopf durch das Fenster auf der Beifahrerseite. Said stieg aus und hielt dem Mann und seiner Begleitung die Türen auf.
„Fahren Sie Berger Straße“, bat der Mann. Said fuhr los.
Der Mann und die Frau unterhielten sich in einer fremden Sprache. Said vermutete Nordkurdisch, konnte den Dialekt aber nicht zuordnen.
„Wo kommt ihr her?“, wollte Said wissen.
„Anatolien“, antwortete der Mann. „Und du?“
„Irak“, sagte Said. „Wie lang schon hier?“
„Fünf Jahre.“
„Und, wie gefällt’s euch?“
„Ist komisch. Immer kalt. Deutsche immer müde. Müssen immer arbeiten. Aber besser hier wie in Türkei. Und du?“ Der Mann drehte sich zu Said.
„Schon lange hier, seit Golfkrieg“, sagte Said. „Dann hier geblieben, Arbeit gefunden, Frau und Kinder. Deutsche sind komisches Volk, aber geht schon.“
Für einen Moment lang schwiegen alle drei. Die Ampel wurde grün. Said fuhr an der Konstablerwache vorbei in die Friedberger Landstraße.
„Sind sehr komisch“, wiederholte der Mann, und seine Frau auf der Rückbank nickte. Sie waren da. Die beiden verabschiedeten sich.
„Wagen 29, bitte kommen“, kratzte es aus dem Funkgerät. Said bestätigte. Alles fühlte sich so selbstverständlich an. Die Zentrale orderte ihn zum Südfriedhof. Dort stieg ein alter Mann ein, der sich auf einem Gehstock abstützte.
„Falkstraße“, bat er mit rauher Stimme, und Said hörte, daß er offenbar von hier war. „Bockenheim?“, vergewisserte er sich, während er grob auf die Untermainbrücke zusteuerte.
„Jawoll“, bestätigte der Mann zufrieden.
„Sind Sie von da?“, fragte Said. Der Mann lachte. „Isch bin e Frankfurter Bub“, sagte er zufrieden und schaute nach vorne. „Schon immer gewesen. Nie woanders. Immer hier.“
Said staunte in den Rückspiegel. „Nie woanders?“
„Nie woanders als wie hier. In Ginnheim geboren, zur Schule und in die Lehre gegangen, gearbeitet, schon lange in Rente. Isch werd’ hier auch sterben. Immer hier. Immer dahaam.“
„Haben Sie nie überlegt, wegzuziehen?“, fragte Said. Für ihn war Bagdad auch nach dem Golfkrieg keine Option mehr, Deutschland der Neustart, alles auf Anfang.
„Naa“, antwortete der Mann und lächelte. „Isch laß doch mei Frankfurt net alaa!“
Sie waren in Bockenheim angekommen. Said half dem Mann beim Aussteigen und sah ihm noch nach, bis er in einem der Mietshäuser verschwand. Für ihn war es unvorstellbar, sein ganzes Leben lang an nur einem Ort zu verbringen. Es hätte ihm den sicheren Tod bedeutet. Jetzt war er hier. Es hätte überall sein können, aber nun war es eben Frankfurt. Er rief seine Frau an. „Anissa? Machen wir heute Kibbeh mit Salat? Mir ist nach Essen aus der Heimat. Und Äppelwoi... Schön, ich freu’ mich! Bis nachher!“ Said war zufrieden und blieb an der Bockenheimer Warte. Zwei Straßen weiter wohnten er und Anissa mit den Kindern. Er war zu Hause.

Letzte Aktualisierung: 23.02.2016 - 12.42 Uhr
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