Sie hatte den Schlüssel aus der Tasche gewühlt. Die Pumps mit den roten Sohlen von den Nylon bestrumpften Füßen gestreift. Die Holztür hakte wie immer ein wenig, gab dann jedoch den Weg frei in das alte Bauernhaus. Wie von einem schwarzen Loch wurde sie in den knarzenden Gang hineingesogen. Der Rollkoffer holperte leise hinter ihr her. Sie hängte den Schlüssel an das „M“ des Holzbrettchens, das den Schriftzug trug „My home is my castle“. Dann tasteten sich ihre Füße in die grauen Filzpantinen, in denen sich jede ihrer Zehen über die Jahre hinweg seine Mulde geschaffen hatte. Alles war wie immer. Sie schlurfte in die Küche, warf einen kurzen Blick in das Wohnzimmer. Im Ofen knisterte das Feuer. Es roch nach frischem Holz und Gemütlichkeit. Er hatte wohl nicht das Umdrehen ihres Schlüssels gehört und ihr Auftauchen nach drei Tagen bemerkt, als sie plötzlich verschwunden gewesen war. Sie atmete leise auf. Er saß in dem großen Ohrensessel, seine Ellbogen in der schwarzen Wolljacke auf den Lehnen abgestützt. Seine Beine im legeren Jogginganzug waren leicht auseinandergefallen. Es war ihr, als hätte vor ihrer Flucht ein Fotoapparat ein Bild geschossen, das in seiner Ansicht seither festgefroren war. Nichts hatte sich seither verändert. Seine Hände hielten die Zeitung vor sich. Der breite Goldring an seinem rechten Finger zeichnete sich ab.
Ihr Magen krampfte sich, wenn sie daran dachte, was passieren würde, wenn dieses Standbild erwachte. Sie hörte ein Räuspern hinter den Zeitungsblättern. Hörte, wie er den Schleim in seiner Kehle hochholte, um ihn dann in seinem Mund zu sammeln, wie er es immer nur tat, wenn er sich ganz entspannt und wohlig fühlte.
Vielleicht würde doch noch alles gut werden. Leise schlich sie weiter in die Küche, band die Halbschürze um, tastete in die Tasche, als sie seine Stimme hörte. Ihre linke Hand grub sich in den Wischlappen, in dem noch Brösel hingen. Mit der rechten Hand griff sie gewohnheitsmäßig in die Tasche nach der Brille mit dem rosa Gestell, das so gar nicht zu dem muffigen Küchenraum passte, in dem der Eiergeruch nicht abgeräumter Frühstückstische mehrerer Tage hing. „Lea“, rief es dieses Mal schärfer, dass es neu in die alten Wunden schnitt. „Lea“. Mit zitternden Händen setzte sie ihre Brille auf, so, wie andere einen Kurzen kippen oder Tabletten schlucken, wenn sie keinen Wortpfeil im Köcher zum Verschießen haben, aber ein Schild vor sich benötigen, das sie vor weiteren Verletzungen schützt. Der rosarote Rand der Brille verstärkte die schweißige, erhitzte Röte in ihrem Gesicht, als sie von der Küche in das Wohnzimmer tippelte. Fahrig ordnete sie ihre Haare. Würde er dieses Mal wieder die Worte finden von damals, dass dieses abgefahrene Gestell sie hervorhob aus der Masse der fahlen Brillenträgerinnen. Witzig - ein bisschen crazy wie sie selbst und er besonders das an ihr immer wieder liebte, während sein Blick jede Rundung ihres Körpers streichelte.
„Wie hübsch du immer noch bist, Liebchen“, hörte sie samten seine Stimme flüstern.
Er hatte die Zeitung gesenkt und war auf sie zugekommen.
„Auch ohne Brille.“ Sein Finger wickelte sich um eine ihrer blonden Strähnen.
Sie griff nach dem Bügelgestell, um es mit zitternden Händen zu halten.
„Ausgefallen, wie du aussiehst.“ Er lachte kurz. Zentimeter für Zentimeter schob er ihre Brille nach vorne.
„Sonst kann man ja gar nicht deine hübschen braunen Augen sehen. Wie ein kleines, unschuldiges Reh. Du weißt ja, so mag ich dich am liebsten.“
Seine Finger drehten etwas fester ihre Locke. Sein Atem wurde kürzer.
Sie zuckte zusammen. Kurz nur. Die Brille war mit einem Klackgeräusch zu Boden gefallen. Kein Laut war aus ihrem Mund zu hören. Nur ein kleiner, blonder Haarbüschel schwebte zu Boden.
Als er Stunden später aus dem Haus gegangen war, hatte sie ihre Haare gerichtet, eine frische, neue Schürze angezogen. Die Schuhe waren blankgeputzt. Die Augen hinter der rosaroten Brillenfassung getuscht. „Die Gräfin“ hieß sie nur in dem kleinen Dorf bei Witten. Und mit Anspielung auf ihr ungewöhnliches Outfit auch hier und dort die „rosa Plüschlady“. Sie ging mit ihren Hochhackigen hinaus auf das Feld. Die Kühe mussten in den Melkstand getrieben werden. Frische, würzige Luft wehte ihr in das Gesicht und kühlte es. Am Horizont hatte sich ein kreisrunder Sonnenball gebildet, der den Himmel in warme Orangetöne zeichnete. Einige Kühe wedelten, gelangweilt käuend, hin und wieder mit dem Schwanz nach einer Schmeißfliege. Ihre Euter waren dick und prall gefüllt. Alles lag friedlich da. Nichts erinnerte an den rostigen Holzzaun, der sich in ihren Unterleib hineingebohrt hatte. Es war nur ein Traum gewesen. Ein schlechter Traum. Sie hatte ihr Kind nicht verloren.
Als das Messer am Abendbrottisch auf ihrer beiden Teller kratzte, hatte sie neue Hoffnung geschöpft. Er hatte ihr keinen einzigen Vorwurf gemacht, dass sie einfach verschwunden gewesen war für drei, vier Tage. Die Kühe waren folgsam gewesen. Willig waren sie an ihren Platz im Melkstand getrottet. Sie schienen sich gefreut zu haben, dass sie wieder da war. Und auch er schien zufrieden, nahezu besänftigt.
Er hatte den Fernseher eingeschaltet. Eine Politsendung. Sie hatte wieder ihre rosa Brille aufgesetzt, um den Knopf anzunähen, der manches Mal abgeplatzt war, wenn er die drei oder vier Stunden nochmals aus dem Haus ging. Aber er sagte nichts und sie fragte nicht. Langsam wagte sie wieder gleichmäßig zu atmen, da, wo vorher ihr Atem flach und unhörbar gegangen war. Sie riß den Faden nach getaner Arbeit mit den Zähnen ab, wie immer, wenn sie gutgelaunt war. Dieses Mal klagte er nicht, dass sie doch die Schere nehmen soll. Sein Kopf war leicht zur Seite gerutscht und ruhte nun an dem einen großen Ohr des Sessels. Er schlief. Seine Hände ruhten leicht geöffnet und entspannt in seinem Schoß. Sie waren immer noch gepflegt und feingliedrig. Wie sanft und besorgt er sie damit im Bett eingehüllt hatte, nachdem sie miteinander geschlafen hatten. Sie liebte ihn immer noch.