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Die rosarote Brille | März 2016

Das GlĂŒck wartet am Meer
von Anne Zeisig

Ich saß auf dem Rastplatz in der geöffneten FahrertĂŒr meines Autos, ließ mir die Sonne ins Gesicht scheinen und genoss das Butterbrot mit Kochschinken und Gouda. Blickte wĂ€hrend des Kauens auf meine Armbanduhr. Noch zwei Stunden bis Hamburg, ich wĂŒrde also den Termin zu dem Kunden pĂŒnktlich schaffen.
Das Brot war etwas trocken. Elsbeth hatte es bestimmt schon gestern Abend belegt und in die FrĂŒhstĂŒcksbox gelegt.
“KĂ€se mit Schinken, wie immer?”, fragte sie mich seit dreißig Jahren Ehe jeden Abend nach dem Essen. “Wie immer mit GĂŒrkchen”, sagten wir gleichzeitig und lachten.
Ach ja. WorĂŒber sollten wir auch sonst lachen.

Ein junges Ding mit kurzem karierten Rock wippte schwungvoll auf mich zu. Ihre langen Beine schimmerten bronzen. Sie war höchstens Mitte Zwanzig, schÀtzte ich.
“Hamburg?”, fragte sie und wickelte ihre schwarze Lockenpracht um die Finger.
Anhalter?
Nie!
Aber ich könnte eine Ausnahme machen. Ein wenig nette Unterhaltung wÀhrend der Fahrt wÀre nicht zu verachten.
Kaum, dass ich genickte habe, saß sie auch schon auf dem Beifahrersitz, warf ihre Handtasche auf den RĂŒcksitz, griff herĂŒber und nahm sich ungefragt das letzte Brot.
“Danke”, sagte sie mampfend, “ich will zum Meer, weil ich da mein GlĂŒck finde.”
Ich schloss die TĂŒr, schnallte mich an und fĂ€delte auf die Autobahn ein. “Meine Generation hat gelernt zu fragen, bevor man sich etwas nimmt.” Kaum ausgesprochen, bereute ich meinen Oberlehrerton.
Mein Gott! Sie muss ja denken, dass ich bereits uralt sei. Und nicht erst Sechzig.
Sie legte die Schnitte beiseite. “Ist mir eh zu trocken.”
Ich heftete meinen Blick angestrengt auf die Straße, aber ihre nackten Beine waren auch aus den Augenwinkeln nicht zu ĂŒbersehen, der kurze Rock gab mehr preis als er verdeckte. Die Stille war mir unangenehm. “Geht ‘s wegen der Liebe nach Hamburg?”
“Wie kommst du denn darauf?”
“Sie haben gesagt, dass Sie am Meer ihr GlĂŒck finden werden.”
“Oh!”, sie pfiff durch die ZĂ€hne, “du kannst zuhören!”
Was sollte diese Provokation? Ich bereute bereits meinen Entschluss, sie mitgenommen zu haben.
“Es ist fĂŒr mich selbstverstĂ€ndlich, dass ich zuhöre, wenn mir jemand was erzĂ€hlt.”
Sie winkte ab. “Meine Mutter hat mir nie zugehört”, und stöhnte leise.
“Du rauchst bestimmt nicht im Auto, stimmts? Einer wie du ist durch und durch clean, keine Sucht.”
Ich war froh, dass sie das Thema wechselte, hatte keine Lust auf ihren Familienfrust.
Ist man sĂŒchtig, wenn man abends sein wohlverdientes Feierabendbier trinkt? Und beim Kegeln mit den Kollegen einen ‘Kurzen’, oder nach der Chorprobe? Ich habe das im Griff.

Nach einer gefĂŒhlten Stunde des Schweigens nestelte sie ihre Tasche vom RĂŒcksitz und setzte sich eine Brille auf. Ich blickte nur kurz hinĂŒber, denn der Verkehr war sehr dicht geworden, erkannte aber, dass es sich um eine rosafarbene Brille handelte mit ebenso rosa getönten GlĂ€sern.
“Die wollte ich meiner Mutter schenken.” Hörte ich da einen bitteren Unterton? “Aber sie hat sie nicht angenommen.”
“Ausgefallenes Modell”, bemerkte ich unverbindlich, “die GeschmĂ€cker sind halt unterschiedlich.”
“Das sollte der Wink mit dem Zaunpfahl sein, weil sie mit einer rosaroten Brille durchs Leben lĂ€uft.” Ihre Stimme war nun fest und klar.
“Und du?” Sie stieß mich kurz an der Schulter an. “Haste auch so eine auf?”
Gute Frage. NatĂŒrlich muss man sich oft Situationen Schönreden, sonst wĂ€re manches nicht ertrĂ€glich. Man kann nicht immer der RealitĂ€t ins Auge blicken.
“Meine Mutter lebt Jahrzehnte mit diesem Alkoholiker-Mistkerl, den ich nicht meinen Vater nenne, er ist mein Erzeuger. Sie ist ihm hörig, kommt nicht los von dem Fiesling.”
“Aha.” Mir war eher nach einer unverbindlichen Unterhaltung zumute.
“Ich hasse diesen Typen! Und meine Mutter auch! Weil sie so schwach ist.”
Jeder hat sein PĂ€ckchen zu tragen. Meine Kindheit war auch nicht rosig und aus mir ist trotzdem was geworden. Lamentieren und Jammern bringen doch auch nichts.
Sie schnÀuzte ihre Nase.
“Aber nun wartet ja Ihr GlĂŒck am Meer”, sage ich aufmunternd, um die Stimmung in eine positive Richtung zu lenken. “Elsbeth, meine Frau, und ich, wir waren frĂŒher oft am Meer. Nun verreist sie nicht mehr gerne und ich bin auch froh, wenn ich nicht immer auf der Autobahn . . . “, ich unterbrach mich, “aber das muss Sie nicht interessieren. Elsbeth hat Rheuma, mag keine Hotelbetten, liebt Ruhe und Ausgeglichenheit in ihrer gewohnten Umgebung.”
“Heißt das, bei euch lĂ€uft im heimischen Bett nichts mehr?”
Ganz schön kess, die Kleine.
Die Lust aufeinander ist bereits vor Jahren eingeschlafen. War’s vor zehn Jahren, oder vor fĂŒnfzehn? Ich habe nie nach dem Grund gesucht. Wir sprachen nie darĂŒber.
Gestern Abend hat sie ihren Arm um meine Schultern gelegt und gesagt, wie zufrieden sie ist, dass es im Leben doch befriedigend sei, wenn man Zufriedenheit verspĂŒre.
“Ja”, habe ich Elsbeth geantwortet, “man kann froh sein, wenn man einen Beruf hat und ein gemĂŒtliches Heim. Nicht alle können sowas von sich behaupten.”
“Oh!”, rief meine Beifahrerin aus, “‘tschuldigung, ich war zu indiskret.”
Ich schaute stur auf die Autobahn. Ja, das war zu persönlich.
“Ein gestandener Mann wie du lebt bestimmt voll und ganz in der RealitĂ€t und macht sich selber nichts vor. Du bist keiner, der mit rosaroter Brille umherlĂ€uft, darauf könnte ich wetten. Du gehst pĂŒnktlich dem Beruf nach und lebst geregelt.” Sie spielte mit dem BrillenbĂŒgel herum und vielleicht bildete ich es mir auch nur ein, dass dieser Stofffetzen von Rock noch weiter hochgerutscht war.
Mir wurde heiß, ich lockerte meine Krawatte und schalt mich. Dieses Ding könnte meine Tochter sein.
Ist sie aber nicht.
Kinder waren uns nicht vergönnt. Es hatte sich nicht ergeben und war zwischen Elsbeth und mir auch nie Thema. Wir haben uns stets ohne große Worte verstanden.

Plötzlich kroch sie zu mir hinĂŒber und massierte meinen Oberschenkel. “Ich will mit dir schlafen. Nur einmal”, flĂŒsterte sie, “will mich endlich wieder selbst spĂŒren.”
Ich schob ihre Hand zurĂŒck. Sie rĂŒckte von mir ab.
RiesentrÀnen kullerten aus matten Augen ihre Wangen hinunter.
“Es tut mir leid”, röchelte ich mit belegter Stimme, “attraktiv sind Sie, aber ich bin meiner Frau immer treu geblieben.”
“Ja, das dachte ich mir. Ich mag dich, weil du Ruhe ausstrahlst.” Sie wischte ihre TrĂ€nen ab.
Ich empfand das nicht als Kompliment.
Sie setzte diese Brille auf: “Ich bin gerĂŒhrt, weil ich mich bei dir sicher und geborgen fĂŒhle.”
Ja ja, der vÀterliche Freund. Was habe ich denn gedacht? Dass sie sich in mich verknallt hat?
Wie zerbrechlich sie aussah.
Sie atmete sehr tief ein und aus. “Ich will endlich ans Meer. Da bin ich mir ganz sicher, dass ich dahin will.”
Ich schaltete zur Ablenkung das Radio ein.
`Familiendrama in Bremen. Ein Ehepaar wurde erstochen im Schlafzimmer ihrer Wohnung im Schnorviertel aufgefunden.ÂŽ
Sie schaltete es aus. “Schlechte Nachrichten machen traurig.”
Nun regnete es in Strömen, was ein unumstĂ¶ĂŸliches Zeichen dafĂŒr war, dass wir gleich in Hamburg waren.

“Hamburg weint”, sagte sie leise, als ich am alten Elbtunnel einen Parkplatz anfuhr und den Motor abstellte.
“Aber hier ist noch kein Meer”, klĂ€rte ich sie auf.
Sie nickte. “Und doch ist es so nah. Ich kann es riechen.”
Ich hauchte ihr einen zaghaften Kuss auf ihre Wange. Mir fiel auf, wie blass sie war.
Irgendetwas hing in der Luft. Hatte ich mich etwa verliebt?
Habe immer verstĂ€ndnislos den Kopf geschĂŒttelt, wenn alternde Kerle sich an junge Frauen herangemacht haben, in der Hoffnung, das gĂ€be ihnen die Jugend zurĂŒck. Aber zugegeben, ich fĂŒhlte mich von ihr angezogen.
Wann soll man eigentlich leben, wenn nicht jetzt?
Sie war inzwischen ausgestiegen, hÀngte sich ihre Handtasche um, warf mir einen Handkuss zu und ich sah durch regenverschwommene Autoscheiben, wie sie im Nichts verschwand.
Erst jetzt bemerkte ich, dass sie kein GepÀck dabei gehabt hatte.
Junge Leute! Fahren einfach spontan los. Keine Planung, keine Reisetasche. Beneidenswert, wenn man keinen schweren Rucksack zu tragen hat.

* * *

Abgespannt, aber gut gelaunt wegen des guten GeschÀftsabschlusses befuhr ich Stunden spÀter die Autobahn Richtung Heimat. Weil der Feierabendverkehr vorbei war, kam ich gut durch, schaltete das Radio ein, wie ich es immer gerne tat.
ZunÀchst beachtete ich Nachrichten nicht, bis dieser Satz kam:
`In NĂ€he der LandungsbrĂŒcken wurde eine junge Frau aus dem Wasser geborgen. Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos. Es handelt sich um eine junge Frau mit kariertem Rock und schwarzen langen Haaren. Ihre IdentitĂ€t ist noch ungeklĂ€rt . . . ÂŽ
Ein schmerzhafter Ruck durchfuhr mich. Ich fuhr abrupt rechts heran, die Bremsen quietschten, das Heck schleuderte leicht hin und her.
Aber sie wollte am Meer ihr GlĂŒck finden!
Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und knotete meine Krawatte mit fahrigen Bewegungen auf, legte sie auf den Beifahrersitz.
Da lag ihre Brille.


endVERSION

Letzte Aktualisierung: 22.03.2016 - 06.19 Uhr
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