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Die rosarote Brille | März 2016

Reisenotizen
von Monika Heil

Herzklopfen
Ich sitze allein im Abteil. Meine Augen halte ich geschlossen, versuche bewusst, die Umgebung auszublenden. Umso intensiver höre ich das dumpfe Rollen der Räder. Das eintönige Geräusch erreicht mein Ohr, nicht jedoch mein Inneres. Das ist erfüllt vom Abschiednehmen, Loslassen. Meine Vergangenheit bleibt zurück. Gewollt und unwiderruflich. Es ist vorbei. Ich reise meiner Zukunft entgegen. Die Fahrt dauert Stunden. Die Zeit fliegt. Mit jedem Kilometer wird das ´jetzt` zum ´damals` und das ´bald` zum ´jetzt`.

Angekommen
Als ich auf der Insel ankam, war es bereits dunkel. Du standest allein an der Pier. Ich erkannte deine vertraute Silhouette. Mein Herz pochte heftig, während du mit schnellen Schritten auf mich zukamst und mich liebevoll in die Arme nahmst. Der Augenblick war endlich da, auf den ich so sehr gewartet hatte. Stunden später lag ich neben dir und war glücklich.

Erwartungen
Unser erster gemeinsamer Tag. Keine gestohlenen Stunden, keine aus den Tagesabläufen herausgepressten Augenblicke. Keine Heimlichkeiten in Vorstadthotels. Frühstück im Bett. Durch die weit geöffnete Terrassentür tanzten Sonnenstrahlen in unser Zimmer. Ich genoss alles - dein Lachen, deine Blicke, deine Hände.

Dann der lange Spaziergang am Meer, die klare Luft. Salzgeschmack auf deiner Haut. Du zeigtest mir die schönsten Stellen der Insel. Wir gingen auf verschlungenen Wegen durch schmale Gassen, gesäumt von weiß gekalkten Häusern. Ich bestaunte die verschwenderische Blütenpracht, Farbenrausch, wohin das Auge schaute. Das kleine Lokal am Meer, das unvergleichliche Licht des Spätsommertages, das über dem Wasser zu tanzen schien. Frischer Fisch, gut temperierter Chablis, geflüsterte Versprechen. Grenzenloses Glücklichsein.

Morgen wirst du mich ein paar Stunden allein lassen.
»Geschäfte«, sagtest du. Nun gut, zwei Stunden kann ich dich entbehren. Ich werde mir die eleganten Boutiquen an der Strandpromenade anschauen. Und dann werde ich auf deine Rückkehr warten. Sehnsüchtig.

Enttäuschung
Spät kehrtest du zurück in unser Hotel. Ich spürte deine Anspannung, versuchte, den Grund in deinem Gesicht zu lesen. Vergeblich. Dein Schweigen irritierte mich.
»Vergiss den Tag«, sagtest du endlich. »Jetzt sind wir ja wieder zusammen. Nur du und ich. Der Augenblick zählt.«
Habe ich nicht auch alles vergessen, was hinter mir liegt? Nein. Das stimmt nicht. Dort liegt das Buch. Ich las darin, während ich auf dich wartete. Stefans letztes Geburtstagsgeschenk. Warum brachte ich es mit hierher? Ich weiß es nicht.

Bei unserem Abendessen warst du wieder der aufmerksame geliebte Partner. Die warme Nachtluft, glitzernder Mondschein, Champagner, Tangomusik. Ich weiß gar nicht, was für Geschäfte du betreibst. Ich muss dich morgen früh danach fragen, wenn du wach bist.

Ernüchterung
Ich wusste nicht, dass du ein Haus auf dieser Insel besitzt. Ich sah dich zufällig die prachtvolle weiße Villa am Hang verlassen und in deinen Wagen steigen. Du konntest mich hinter dem dicken Baumstamm nicht sehen. Ich ermahnte mich, schnell weiterzugehen und den Namen auf dem glänzenden Messingschild nicht zu lesen. Ich tat es dennoch in der Hoffnung, es wäre der eines anderen. Damit du mir am Abend erzählen könntest, du hättest einen Geschäftsfreund besucht. Ich las deinen Namen. Ich setzte meinen Spaziergang fort, ging in unser Hotel und wartete. Wartete auf dich und deine Umarmung. Wieder kamst du spät zurück. Und wieder sagtest du nur lapidar:
»Geschäfte«. Warum sprichst du nicht darüber? Warum frage ich nicht? Was will ich hören? Was fürchte ich, zu hören?
Ich weiß es nicht. Zuviel rosarote Brille? Noch so eine Frage.

Das Foto. Es fiel aus dem Buch, das Stefan mir schenkte. Er und ich. Hand in Hand am Strand, aufgenommen im letzten Sommer auf Sylt. Es war kalt damals. Hier ist es sehr warm. Mich fröstelt.

Die Insel ist zauberhaft. Winkelige Gassen, unzählige Treppenaufgänge, weiße Hausfronten. Rote, blaue, gelbe Blumen ranken sich daran entlang. Alle Wege führen scheinbar zu dem Haus, vor dem dein Wagen parkt. An dem dein Name steht. Schwarze Buchstaben auf matt glänzendem Grund. Warum wohnen wir in einem Hotel? Ich frage noch immer nicht. Ich kam zu dir, wollte mit dir leben. Doch dein Haus bleibt mir verschlossen. Ich kenne bisher nur seine Fassade. Und die deines Gesichtes. Das Innere ist mir fremd.

Ich las wieder in Stefans Buch. Ich hatte auch heute viel Zeit. Zeit zum Nachdenken, Zeit zum Erinnern, Zeit, Fragen zu stellen. Wo stehe ich? Wo gehöre ich hin? Wie sieht meine Zukunft aus? Vorhin warf ich die Muschel weg, die du mir schenktest, damals, als wir uns zum ersten Mal begegneten.

Beim Abendessen dann dein Versprechen.
»Das Wochenende gehört uns allein«, sagtest du. »Ich zeige dir die ganze Insel.« Du weißt nicht, dass ich sie schon recht gut kenne. Du hast mich auch heute sehr lange allein gelassen. Zu lange.

Vorbei
Die Koffer sind gepackt. Morgen früh geht mein Flieger. Mit dem Schiff und dem Zug dauert es mir zu lange. Ich ersticke an der Seeluft. Ich ersticke an meinen Gefühlen. Hundert Pfade spazierten wir gestern über diese Insel. Keiner führte an dem Haus vorbei, das in den letzten Tagen noch im Wege stand. Der Tag verging langsam, der Abend kam. Und endlich stellte ich meine Fragen. Alle. Antworten erhielt ich nur wenige.

Ich kann dir nichts erklären. Du bist wütend, scheinst auch ein wenig erleichtert. Ich kenne dich nicht.

Wehmut
Bald bin ich zu Hause. Dein Buch habe ich ausgelesen, das Foto hundert mal betrachtet. Du wolltest dir Gedanken um unseren nächsten Urlaub machen. Nicht nach Sylt, Stefan. Keine Insel bitte. Du weißt nicht, wann ich ankomme. Deshalb wirst du mich nicht am Flughafen abholen.

Das gleichmäßige Brummen der Motoren erreicht mein Ohr, nicht aber mein Inneres. Das Flugzeug schafft Entfernungen — schmerzhaft schnell. Die Insel bleibt weit zurück. Ich bin traurig. ´Letzte Woche` wird irgendwann ´damals im Oktober`, bleibt Erinnerung, ist wichtig für die Zukunft.

Heute glaube ich zu wissen, wohin ich gehöre.

3. Version

Letzte Aktualisierung: 20.03.2016 - 10.07 Uhr
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