Die rosarote Brille | März 2016
| Auf der StraĂe | von Marcel Porta
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âMensch Emil, jetzt tingeln wir seit drei Jahren miteinander rum und ich weiĂ immer noch nicht, wieso du hier bei uns gelandet bist. Ich bin ein unheilbarer SĂ€ufer, da stellt sich die Frage nicht. Aber du?! RĂŒhrst keinen Tropfen an. Und bist doch hier mit uns in der Gosse.â
âKomm, lass gut sein, Karl. Ich bin hier, weil ich hier sein will. Und weil ich zu euch passe, auch wenn ich das Saufen nicht mag.â
Die beiden Alten sehen ungepflegt aus. Trotz der KĂ€lte campieren sie unter einer BrĂŒcke und jeder liegt auf einer schmutzstarrenden Matratze, die bessere Tage gesehen hat.
âAber irgendeinen Grund muss es doch geben âŠâ
âIch liebe die Ehrlichkeit, und bei uns geht es ehrlich zu. Geh doch mal raus und schau dich um. Da wird geheuchelt, gelogen, vorgetĂ€uscht. Der Mann betrĂŒgt seine Frau, der Arbeitgeber seine Untergebenen, der Pfarrer seine Gemeinde. Freundschaft â gibt es nicht. Dort nicht! Bei uns schon.â
âJa, da magst du recht haben, Emil.â
Karl nickt bestÀtigend. Dieses Argument leuchtet ihm ein.
âAber hör mal, Emil, das erklĂ€rt, warum du jetzt bei uns bist und nicht bei denen. Es gab aber mal eine Zeit, wo das anders war. Und einen Zeitpunkt, an dem du âŠâ
âDu meinst, an dem ich umzudenken begann?â
âJa, so in etwa. Und einen Grund dafĂŒr.â
âDarĂŒber rede ich nicht. Mit niemandem.â
***
Das GesprĂ€ch ist verstummt. Karl hat sich abgewendet, und als ihn Emil mit dem Ellbogen sanft in die Seite stöĂt, reagiert er nicht.
âHey Karl, nun sei doch nicht beleidigt.â
ââŠâ
âMan wird doch noch ein Geheimnis haben dĂŒrfen. Ich weiĂ ja auch nicht alles von dir. Du bist geschieden und ich habe dich nie gefragt, warum.â
âSie hat mich mit dem Hausmeister betrogen.â
âIch wollte es doch gar nicht wissen, verdammt noch mal!â
âHĂ€ttest nur zu fragen brauchen.â
âLass mir meine Ruhe, du verflixter QuĂ€lgeist!â
ââŠâ
Wieder bleibt es eine Zeit lang still. Emil hantiert mit einem kleinen Gaskocher herum und flucht, als er ihn nicht zum Brennen bringt. Enerviert wendet er sich seinem Freund zu.
âWillst du wirklich wissen, was fĂŒr ein exorbitant dummes und idiotisches Arschloch ich gewesen bin? Wie verbohrt ein doch sonst halbwegs intelligenter Mensch sein kann? Und wie blind fĂŒr die RealitĂ€t, wenn er doch mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen glaubt? Es ist wahrlich keine erbauliche Geschichte, mein Lieber.â
âIch höre âŠâ
***
Karl deckt sich mit seinem Mantel zu und zieht die SchöĂe fest um seine Beine. Dann wartet er, dass Emil mit seiner Geschichte herausrĂŒckt. Doch der lĂ€sst sich Zeit, schiebt eine Zeitung von links nach rechts, öffnet den Mund und schlieĂt ihn wieder. Man sieht ihm an, wie schwer es ihm fĂ€llt, ĂŒber diese Dinge mit jemandem zu reden. Auch wenn es sich dabei um seinen besten Freund handelt.
âVerdammt noch mal!â, legt er endlich los. âDu bist so ein hartnĂ€ckiges Scheusal!â
âIch dachte, du magst mich und meine HartnĂ€ckigkeit.â Karl grinst breit und legt den Kopf auf seine HĂ€nde. Er ist ganz Ohr.
âIch war Versicherungsmathematiker von Beruf. Ziemlich erfolgreich und Leiter einer ganzen Abteilung. Meine Frau Linda sah ich viel zu selten, denn die Arbeit fraĂ mich auf. Morgens, wenn ich aus dem Haus ging, sah ich sie nur kurz, und auĂer einem Kuss auf die Wangen hatte sie nichts von mir. Abends kam ich spĂ€t nach Hause und war mĂŒde und gestresst. Selbst im Urlaub waren meine Gedanken bei der Arbeit, und sie hatte wohl kaum ein VergnĂŒgen an mir. Beschwert allerdings hat sie sich selten.â
âJa, das klingt wirklich ziemlich doof. Solche Typen habe ich gefressen.â
âIch auch, Karl, ich auch. Aber damals war ich genau so einer. Mit Haut und Haaren der Arbeit und der Firma verschworen.
Doch dann kam der 15. Februar vor vierzehn Jahren. Abends im Bett vertiefte ich mich wie gewöhnlich in meine Berechnungen, die ich von der Arbeit mit nach Hause gebracht hatte. Gegen Mitternacht konnte ich mich endlich davon lösen. Erst da bemerkte ich, dass Linda nicht wie gewöhnlich las. Das Buch lag auf dem Nachttisch. Sie musste mich die ganze Zeit still beobachtet haben.
âIst dein Buch nicht interessant?â, mutmaĂte ich. Ohne auf meine Frage einzugehen, erzĂ€hlte sie mir, dass sie am Morgen beim Frauenarzt gewesen war. Ich wunderte mich, dass sie mich mit solch einer Bagatelle behelligte. Solche profanen Dinge erzĂ€hlte sie sonst nie.â
âOh, das klingt nicht gut.â Karl macht ein bedenkliches Gesicht.
âVerdammt richtig! Doch damals: Nicht einmal ihr trauriger Tonfall hat mich vorgewarnt. Erst als ich die ganze bittere Wahrheit wusste, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Seit Monaten siechte sie vor sich hin, verlor an Gewicht und bewegte sich mit schleppendem Gang. Ich hatte es nicht wirklich registriert, weil ich keine Zeit dafĂŒr hatte. Oder besser, weil es mich nicht wirklich interessierte, wie ich heute weiĂ. Wird schon alles in Ordnung sein, dachte ich, wie immer bei Dingen, die nicht mit meiner Arbeit zu tun hatten.â
âUnd was war los? Was hat ihr gefehlt?â
Emil holt tief Luft, bevor er weiterredet.
âSie hatte einen Unterleibskrebs, der sich rasend schnell vergröĂerte. Seit Tagen wartete sie auf das Ergebnis der Biopsie, ohne mich damit zu belĂ€stigen. An diesem Tag war das Ergebnis gekommen, und es war niederschmetternd. Die Ărzte gaben ihr höchstens noch ein halbes Jahr.â
âUnd da hat sie es fertiggebracht, dir stundenlang bei deinen Berechnungen zuzuschauen, ohne âŠ?â
âJa, das hat mich spĂ€ter auch umgehauen, als ich endlich alles verstand. Sie nahm sich selbst so wenig wichtig, dass sie mich nicht stören wollte.â
âUnfassbar!â
âUnfassbar ist die Tatsache, dass ich mein halbes Leben neben dieser wundervollen Frau verbracht habe, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Dass ich Dinge fĂŒr wichtig hielt, die zwischen uns standen. Das war mein persönliches Fiasko, meine Verdammnis und mein nicht wiedergutzumachender Fehler. In dieser Nacht wurde mein Schicksal besiegelt.â
âWas hast du gemacht, Emil?â Karls Stimme zittert ein wenig, als er sich danach erkundigt.
âNoch am selben Tag habe ich Urlaub auf unbestimmte Zeit genommen. In der Firma gab es zwar eine Menge Widerstand dagegen, doch ich habe mich durchgesetzt. Einfach, weil ich keinen Zweifel daran gelassen habe, dass ich anderenfalls sofort kĂŒndigen wĂŒrde.
Es hat noch vier Monate und zehn Tage gedauert, in denen ich tĂ€glich und stĂŒndlich um sie war. Ich habe sie gepflegt und versucht, ihr die Liebe zu geben, die ich ihr all die Zeit vorenthalten hatte. Bittere Reue quĂ€lte mich, und ich hĂ€tte alles auf der Welt gegeben, wenn ich Linda hĂ€tte halten können.â
Emil starrt auf einen Punkt an der Betonwand, seine GesichtszĂŒge sind hart, und wenn er eine Pause beim ErzĂ€hlen macht, beiĂt er die ZĂ€hen so fest zusammen, dass die Backenknochen hervortreten.
âLinda lebte auf, als ich ihr meinen Entschluss mitteilte. Kurzzeitig ging es ihr viel besser als zuvor. Doch dann ging es rapide bergab, und obwohl sie Schmerzen litt, dass es mir schier das Herz abdrĂŒckte, kam kein Wort der Klage ĂŒber ihre Lippen. Im Gegenteil, sie erschien mir glĂŒcklicher als all die Jahre zuvor. Ich musste ihr sogar versprechen, nach ihrem Tod wieder zur Arbeit zu gehen und mich nach einer anderen Frau umzuschauen.â
âSie war verdammt tapfer! So ganz anders, als meine Schlampe es war.â
âDas habe ich dann aber nicht geschafft. Weder konnte ich wieder zur Arbeit gehen, noch habe ich mich seither nach einer Frau umgesehen. Zuerst verbrauchte ich meine Ersparnisse, doch jetzt lebe ich wie du von der Hand in den Mund. Ich bettle, wenn es nötig ist. Viel brauche ich nicht zum Existieren. Die Erinnerungen an Linda sind es, die mich am Leben erhalten. Ohne sie wĂ€re ich lĂ€ngst untergegangen.
So, jetzt kennst du meine Geschichte und darfst mich verfluchen, wie ich selbst es seit vierzehn Jahren tue.â
Stumm nimmt Karl seinen Freund in den Arm und streichelt unbeholfen ĂŒber seine schĂŒtteren weiĂen Haare.
âMit ihrem Tod hat sie dich gerettet, mein Freund.â
âJa. Aber wofĂŒr?â
âIch weiĂ, ein alter Mann hat nicht mehr viel zu erwarten. Und doch ist das Leben schön. Nimm das Geschenk an und zeige dich ihres Opfers wĂŒrdig. Ich jedenfalls bin ihr dankbar, deiner Frau. Sie hat mir einen Freund geschenkt.â
âOh Mann, dass wir alten Kerle noch so rĂŒhrselig sein können. Ein Königreich fĂŒr ein Taschentuch!â
Verstohlen wischen sie sich die TrÀnen aus den Augen, wickeln sich in ihre löchrigen Decken ein und hÀngen jeder seinen Gedanken nach.
âGute Nacht, Karl. Und danke! FĂŒr alles.â
âGute Nacht, Emil. Morgen ist Weihnachten. Ich spendier dir einen GlĂŒhwein. Mit Schuss!â
âAlter SĂ€ufer âŠâ
© Marcel Porta, 2016
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Letzte Aktualisierung: 07.03.2016 - 21.47 Uhr Dieser Text enthält 8757 Zeichen. www.schreib-lust.de |