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Das Salz in der Suppe | April 2016

Schwarz gegen Rot
von Barbara Hennermann

Sie saß am Küchentisch und starrte auf den Stapel Papier, der vor ihr lag.
Seit Tagen schob sie ihn von einer Ecke in die andere, trug ihn hierhin und dorthin – ohne, dass er dadurch im Geringsten an Umfang verloren hätte. Nicht an Umfang und auch nicht an Schrecken ...
Sein Gewicht drückte sie moralisch nieder, sie spürte es in allen Gliedern, und eine bleierne Müdigkeit ergriff ihren ganzen Körper, sobald sie nur an ihn dachte.

Sicher, sie war andererseits einigermaßen erfolgreich gewesen …
Immer, wenn der Druck zu stark wurde, fand sich eine Ausflucht. So waren inzwischen ihre Fenster blitzblank geputzt, die Wäsche gewaschen, gebügelt und sorgfältig einsortiert – sogar die kleinen Ausbesserungsarbeiten daran hatte sie endlich vorgenommen! Auch der Kühlschrank war abgetaut und der Keller aufgeräumt. Keiner konnte ihr nachsagen, sie wäre dem Müßiggang anheim gefallen! Nach getaner Arbeit ergaben sich kleine Zufälle, die ihr verdient erschienen: So kam eine Freundin vorbei und holte sie zum Saunieren ab. Freunde luden sie zur Geburtstagsfeier ein. Beim Abstauben fanden sich Bücher, die dringend noch gelesen werden mussten. Beziehungskrisen standen an, in denen sie erfolgreich Beistand leisten konnte ...
Alles in allem also Dinge, die keinen Aufschub duldeten.

Beim besten Willen war der Stapel Papier nicht angreif-, nicht abtragbar. Sie wiederholte sich das wie eine Gebetsmühle, denn im Hinterkopf wollte das Grummeln kein Ende nehmen. Das Grummeln, das besagte „wann wirst du endlich? Es muss ja sein. Raff dich auf!“ Es bereitete ihr Kopfschmerzen und allabendlich, wenn die Ruhe sich wie eine schwarze Decke um sie herum ausbreitete, wenn das Pochen sich verstärkte und „wieder nicht geschafft heute“ raunte, tauchte ER aus den Abgründen auf – der rote Fürst Barolo. Er streckte seinen Kopf aus dem Flaschenhals hervor und seine gierigen Glubschaugen stierten auf ihren Gläserschrank. Respekt heischend hob er die beringte Hand, zwang sie in die Knie, bis sie, berauscht von seiner Gewalt, willenlos und ohnmächtig den Schrank öffnete und das Glas füllte. Dann feierte er mit ihr seine rote Orgie, ließ sie den Stapel und die Welt vergessen. Nur, um am nächsten Morgen mit schalem Geschmack und schlechtem Gewissen in die Welt des unsäglichen Papierstapels zurückzukehren.

Sie fühlte es, sie wusste es – so konnte es nicht weitergehen. Bergab, immer weiter bergab. Moralisch am Ende. Vernichtet. Von einem Stapel Papier, der sie bedrohte! Hinter ihren müden Augenlidern pochte der Schlaf an, versprach Heilung und neue Perspektiven. Doch ihr war klar, dass er sie betrog, ihr etwas vorgaukelte, ihr die Kraft zum Tun nahm. Es würde nur einen Sieger geben können, den Stapel Papier oder sie selbst.

Sie erreichte die Talsohle moralischer Verpflichtung nach etlichen Wochen. Ganz unten, ganz, ganz unten, entdeckte sie plötzlich den Animateur, den Heilsbringer. Zischend und brodelnd wandte er sich ihr zu, heißen Odem ausstoßend, erfüllte Raum und Zeit mit seiner Aura, seinem Aroma: Der schwarze Retter! Heiß, schwarz, bitter. Erwecker der Lebensgeister. Meister im Durchhalten. Vertreiber der Nebelschwaden.
Warum war er ihr nicht früher zur Rettung geeilt? Hatte sich wochenlang hinter unbrauchbaren und unnötigen Tarnungen verborgen? Versteckt gehalten?
Egal. Müßig die Fragen. Jetzt war er da …

Sie schlürfte seine Lebensenergie in sich hinein. Schlückchen für Schlückchen. Aromatisch floss er durch ihre Kehle, vertrieb die Mächte des Roten, übertönte das Pochen in ihrem Kopf. Da war sie, die Prise, deren ihr Leben bedurft hatte. Von nun an würde es bergauf gehen!
Der Stapel Papier wurde kleiner, schrumpfte zu einem überschaubaren Häuflein. Und mit jedem Blatt, das sie zur Hand nahm, besserte sich ihr Zustand. Sie hatte Grund zu feiern - den Sieg über sich selbst.

Abgetragen der Stapel Papier, frei das Herz. Wieso nur hatte sie so lange gezögert, sich diesen Zustand zu gönnen? Nur sie, sie allein, war doch in der Lage, ihn herbeizuführen?
Ein Glücksgefühl überschwemmte sie, trug Gliederschmerzen und Schwere aus ihr hinaus, befreite Körper und Geist. Sie war frei! Frei wie ein Vogel! Moralisch rehabilitiert!
Jetzt hatte der rote Fürst keine Macht mehr über sie. Dahin geschmolzen war seine Begehrlichkeit. Frohlockend küsste sie seinen Ring, genoss sein glucksendes Lispeln, das nichts mehr überdecken musste.
Sie war frei.

Bis zum nächsten Stapel Klassenarbeiten …

V 1 04/16/hb

Letzte Aktualisierung: 22.04.2016 - 23.04 Uhr
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