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Das Salz in der Suppe | April 2016

Die Schubkarren-Lösung oder Das Salz in der Schreibküchensuppe
von Hajo Nitschke

Morgens ziehen die Kolonnen in das Moor zur Arbeit hin …
Wir sind die Moorsoldaten und ziehen mit dem Spaten ins Moor ...



Anke hört es nicht, das aus dem nahen Emsland importierte KZ-Lied, obwohl sie neben mir steht. Aber ich, trotz nachlassenden Gehörs. Und meine Enkelin sieht sie nicht. Nur ich. Die riesige, stinkende Kolonne – von der SS-Wachmannschaft und von Marinesoldaten durch unsere Straße getrieben. Hunderte ausgemergelte Gestalten, jetzt am frühen Morgen gerade noch imstande, der zynischen Aufforderung der Bewacher zum Singen nachzukommen. Obwohl sie nach einer armseligen Wasser-Kohl-Suppe am Vorabend und einem nur kargen Frühstück am Morgen schon drei Kilometer Fußweg hinter sich haben. Vom Lager zur alten Torfkolonie, von wo aus sie in offenen Viehwaggons hertransportiert wurden. Abends, auf dem Rückweg von den Arbeiten am Friesenwall, werden sie zum Singen zu entkräftet sein. Zu krank. Oder zu tot …

Die Toten. Dort, direkt unter Ankes Fenster - wieder eines dieser armen Geschöpfe. Die Kapos brüllen: „Zwei Mann Leiche tragen und marsch!“ Aber sie können nicht. Den ganzen Tag knietief im kalten Wasser gestanden und Panzergräben ausgehoben. Viele von der Ruhr geschwächt, am Ende. Müssten selber getragen werden. „Kadaver ziehen!“, kommandiert die SS .Und so schleifen die geschundenen Kreaturen den toten Kameraden ächzend hinter sich her zum Bahnhof, wo die Waggons warten. Zwanzig Minuten Zugfahrt später werden sie ihn erneut an seinen Füßen ihren Weg entlangziehen, bis zum KZ. Bis zum Begräbnis im nahen Pfarrgarten.


Auf und nieder geht der Posten, keiner, keiner kann hindurch. Flucht wird nur das Leben kosten ...


Mit den Zeigefingern bohre ich die Ohren wund. Das Lied klingt aus, doch das makabre Bild bleibt. Fast jeden Tag ein Toter, manchmal zwei, deren kahle Schädel über das Pflaster unter uns rutschen. Die Augen kneife ich zu, bis wieder der alltägliche Verkehr über die asphaltierte Straße rollt. Ich bin Augenzeuge. Bin wieder der dreizehnjährige Bengel. Und zugleich der alte Mann. Mitte achtzig, aber kompetent genug. Deshalb hat Anke um meinen Besuch gebeten. Hier, wo ich in den unseligen Jahren zuhause war. Hier in der elterlichen Wohnung, nach einem Sprung über Generationen hinweg nun das Zuhause meiner Enkeltochter.

Als wäre es gestern! Als stünde es noch, das von Wachtürmen umgebene und von nachts erleuchtetem Stacheldraht umzäunte KZ. Kaum Wasch- und Trinkwassser, keine Medikamente. Insgesamt weit über zweitausend Zwangsarbeiter verschiedener Nationalitäten in den zwei Monaten seines Bestehens gefangen haltend. Arbeitslager, nicht Vernichtungslager. Daher „nur“ hundertachtundachtzig Tote. Die Meisten Polen und Russen, überwiegend im Lager, teils aber auch bei den Außenarbeiten hier in unserer Umgebung gestorben. An Erschöpfung oder Ruhr.

Ankes Passion: sie nennt es literarisches Schreiben. Ihr war eine Kurzgeschichte untergekommen, die einige Fragen aufwarf. Sowohl über die Geschichte unserer gemeinsamen Heimatstadt als auch über schreibhandwerkliche Anforderungen.
„Opa“, hatte sie mich am Telefon gefragt, „stimmt es, dass ich solch unmenschliche Urgroßeltern hatte?“

Jetzt will sie es genau wissen. Jetzt, da dort unten die langen Reihen abends zum Bahnhof ziehen. Autos fahren durch sie hindurch. Fußgänger, Radfaher, es geht ineinander über. Anke liest vor. Geduldig höre ich zu, obwohl ich den Text schon kenne: ich bin bestens vorbereitet, Diese Geschichte wird pauschal als fiktional bezeichnet, entstanden nach der Lektüre eines sogenannten Pilgerheftes. Auch dieses Heft kenne ich und weiß daher, wo die Quellenangaben enden: Angeblich hätten sich die Anwohner durch das Geräusch der übers Straßenpflaster schleifenden Schädel der toten Arbeiter belästigt gefühlt. Als Lärmschutzmaßnahme hätte man den Gefangenen eine Schubkarre zur Verfügung gestellt.

Die Schubkarre stimmt. Nicht aber das Motiv. Da bin ich mir sicher, auch nach den damaligen Kommentaren meines Vaters. Ich habe auch keine anderen Quellen gefunden, die das bestätigen. Und wie erwartet – als erstes stört Anke sich an den „Lärmschutzmaßnahmen“:

„Opa, du warst damals dreizehn. Was weißt du darüber?“
„Genug, Anke. Also, ich halte diese Tourismusbroschüre in diesem Punkt für unglaubwürdig. Überleg mal: Nähere Kontakte waren verboten. Sobald die Häftlingskolonne erschien, suchte man die Häuser auf und schloss wegen des Gestanks die Fenster. Wenn da eine Leiche übers Pflaster geschleift wurde, mag der kahle Schädel ein Geräusch erzeugt haben. Er holperte ja von Pflasterstein zu Pflasterstein. Aber dieses Geräusch wurde von den Tritten hunderter Arbeiter und ihrer Bewacher überlagert. Und durch geschlossene Fenster war es schon gar nicht zu hören.“

„Dann kann ich mir einen ganz anderen Grund für diese Karre vorstellen, Opa. Denken wir beide dasselbe?“
„Tun wir, Anke. Es war das Gefühl der Ohnmacht. Man litt mit den armen Menschen mit. Wollte helfen, obwohl man nicht helfen konnte. Nur heimlich steckte man den Häftlngen hier und da Essbares zu, immer auf der Hut vor SS oder Gestapo. Und dann diese Schubkarre. Mehr ging nicht. Gauleiter und Ortsgruppenleiter waren brutale Hunde. Es gehörte Mut dazu, die Genehmigung zu erwirken.“
„Dachte ich mir. Da wird ein nur zu ahnendes Geräusch mit geschickten Worten zu einer unerträglichen Lärmquelle hochstilisiert. Zu einem Ton, den man überall hört. Indiesem Fall im Umkreis von mehr als zehn Kilometern. Selbst für eine Metapher reichlich dick aufgetragen, oder?“
„Jedenfalls kann das so nicht der damaligen Realität entsprechen, denke ich. Es geht außerdem weit über diesen merkwürdigen Quellenhinweis im Pilgerheft hinaus.“
„So viel also zu den Lärmschutzmaßnahmen, Opa. Wusstest du übrigens, dass in dieser Story ursprünglich von fünfzig Schubkarren die Rede war?“
„Nein. Wirklich?“
„Ja. Erst in der Schlussfassung wurde daraus eine einzige.“
„Komisch.“

„Was anderes, Opa: Da steht auch was von einer mit dieser Kolonne einhergehenden Minderung der Lebensqualität. Wieso …?“
„Kann nicht sein, Anke. Die war damals schon gemindert genug. Kriegsjahre, Mangeljahre. Auch unsere Stadt wurde bombardiert. Es ging ums Überleben. Darum, irgendwie durchzukommen.“

„Also aufgebauscht! Wieso ist überhaupt die Rede von einer Schubkarren-Lösung, Opa?“
„Eine Schubkarre mit der Traglast von etwa 100 Kilo reichte, um im Notfall bis zu zwei Leichen zu transportieren. Wenn es mal um eine oder zwei, manchmal auch um gar keine Leichen ging, war es schon eine Lösung.“
„Das meine ich nicht. Es handelte sich doch angeblich um Lärmschutzmaßnahmen. Ich versteh die Logik nicht: eine Schubkare macht doch auch Lärm.“
„Und wie. Zumindest damals. Das waren einfache, einachsige Karren mit Holzrädern. Oft mit Eisen beschlagen. Schubkarren mit Gummi-Luft-Bereifung hat die Industrie erst in den Fünfzigern produziert.“

„Aha. Und was ist mit der Behauptung, diese Schubkarre sei von den Anwohnern mit der Maßgabe gestellt worden, sie nicht zu sehr zu verschmutzen?“
„Reine Fantasie. Jemandem so was zuzutrauen, verstehe ich nicht.“
„Also Übertreibung, Opa. Effekthascherei jenseits der Realität. Und noch was: Da steht, die Leute hätten darin die innovative Beseitigung von Arbeitsunfällen gesehen. Echt?“
„Natürlich nicht. Richtig ist nur, dass in diesem KZ niemand vergast wurde, die Häftlinge starben entweder im Lager oder hier bei den Außenarbeiten. Ansonsten ist die Fantasie mit der Autorin durchgegangen. Eine derart zynische Schlussfolgerung ist niemandem in den Sinn gekommen.“

„Immer wieder auf Effekt gebürstet – als Stilmittel sozusagen. Wir Schreibermenschen sollten uns davor hüten, etwas durch unredliche Übertreibungen hochzupuschen. Gerade, wenn der Ernst des Themas Wahrheiten verlangt.“
„Wenn du meinst.“

„Was hättest du gemacht, Opa, wenn du damals erwachsen gewesen wärest?“
„Weiß nicht … Zivilcourage – der wunde Punkt. Es lässt sich darüber wohlfeil diskutieren, wenn man nicht selber betroffen ist.“
„Aber nun steht hier, den Bewohnern seien Kontakte mit den Häftlingen verboten worden, 'sonst kümmst bi di Jöden in't Sloot.'“
„Von der systematischen Judenvernichtung durch Vergasung und Einäscherung wussten die Reichsdeutschen damals nichts, Anke. Der Judenmord überstieg die Vorstellungsskraft selbst derer, die den Nazis das Abscheulichste zutrauten. Erst die Alliierten hatten die Bevölkerung mit der Wahrheit konfrontiert. Hier, schau, ich hab dir Himmlers Rede vor den Reichs- und Gauleitern mitgebracht:

'… Man wird sich vielleicht in ganz späterer Zeit überlegen können, ob man dem deutschen Volk etwas darüber sagt … Ich glaube, es ist besser, wir nehmen dieses Geheimnis mit ins Grab ...'
Er hat diese Rede Ende 1943 in Posen gehalten. Aber weil die Deutschen weiterhin den Märchen von Umsiedlung und Evakuierung glaubten, konnte man auch hier bei uns oder anderswo nichts von Vernichtungslagern mit ihren Öfen wissen. Die Schuld bestand darin, dass man auch gar nichts wissen wollte.“

„Mag sein. Wie es aussieht, dürfte hier bei uns dieser Satz über 'Juden im Schlot' damals nicht gefallen sein. So viel blühende Fantasie ist dem Thema nicht angemessen. Dinge werden erfunden, nur um den Inhalt aufzupeppen . Das Salz in der Suppe sozusagen. Dann wird das Ganze als fiktional verkauft und schon ist man fein raus. Denn gegen Fiktionen kann sich niemand wirklich wehren. Nichts gegen Salz in der Suppe. Aber bei näherem Hinsehen hinterlässt das Salz in diesem Fall einen faden Nachgeschmack ...“

„Auch Nachgeschmack ist Geschmackssache. Anke. Hauptsache, eine solche Buchstabensuppe ist kräftig gewürzt: Könnte man es nicht auch so sehen?“

„Nach meiner Überzeugung – nein! Was nutzt das kräftigste Gewürz, wenn es nicht zur Suppe passt!? Es gibt nun mal Suppen, die kein Salz vertragen.“

„Hm ...“



.(c) Hajo Nitschke, V3

Letzte Aktualisierung: 27.04.2016 - 20.07 Uhr
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