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Das Salz in der Suppe | April 2016

Gedanken-Diebe
von Andreas Schmeling

„Nein, das ist wirklich vollkommen harmlos“, sagte der schmächtige Mediziner. Mit wirrem Haar, kleiner Nickelbrille und weißem Kittel entsprach er genau dem Bild, dass sich die meisten Menschen von einem Professor machten. Und in diesem Fall war das Bild noch nicht einmal falsch.
Professor Doktor Doktor Schmidt-Rotkötter, kurz und nur hinter seinem Rücken auch SR genannt, war Leiter des Instituts für Imagination und Dreamologie.
Seit Jahrzehnten beschäftigte sich SR - Entschuldigung Professor Schmidt-Rotkötter - bereits mit menschlichen Träumen und Erlebnissen. Für ihn waren Erinnerungen die Essenz des Lebens; der auf lange Zeit konservierte Geschmack der Realität.
Er forschte daran, wie sie im Kopf entstanden, wo sie abgespeichert wurden und wie sie anschließend wieder abgerufen werden konnten. Alles in allem ein hochkomplexer und kaum durchschaubarer Vorgang im menschlichen Gehirn.
Vor einiger Zeit gelang ihm der große Durchbruch: Mit Hilfe der von ihm entwickelten Memo-Haube konnte er ein digitales Abbild des menschlichen Gehirns abrufen, darin navigieren und einzelne Träume und Erinnerungen sogar abspielen und außerhalb des Kopfes abspeichern.
Als absolut sensationell galten seine Erkenntnisse und Methoden. Nie zuvor wurde ein Mediziner so mit Auszeichnungen und Preisen überschüttet. Der Medizin-Nobelpreis wurde ihm kurzerhand und vollkommen außer der Reihe zuerkannt. Durch seine Forschungen, deren Ergebnisse er sich rechtzeitig hatte patentieren lassen, taten sich völlig neue medizinische Felder auf.

Das Gute an seiner Methode war, dass die Träume und Erinnerungen tatsächlich kopiert werden konnten. Der Proband verlor also nicht seine Erinnerungen, sondern diese wurden auf die Festplatte eines Großrechners dupliziert und abgespeichert. Auf Monitoren konnten die Erinnerungen dann in Farbe, Stereo und 3D visualisiert werden.

Der Patient, der nun vor Professor Schmidt-Rotkötter auf der bequemen Behandlungsliege ruhte, hatte allerdings etwas Anderes vor. Er wollte keine Erinnerungen auslesen, sondern sich im Gegenteil fremde Erinnerungen einpflanzen lassen. Seiner Meinung nach hatte er in seinem bisherigen Leben nur Schlechtes und Langweiliges erlebt. Nun wollte er die Erinnerungen aufpeppen. Der Professor war bereit, dies für ein nicht ganz kleines Vermögen zu tun. Ethische Bedenken lagen ihm fern. Es interessierte ihn nicht, womit andere Menschen ihr Leben würzen wollten.

„Nein, das ist wirklich vollkommen harmlos“, sagte der Professor zum Mann auf der Liege.
„Durch meine Methode ist sichergestellt, dass keine Erinnerungen verloren gehen, falls Sie das nicht wünschen. Wir speichern die neuen Erinnerungen an anderen, bisher freien Stellen in ihrem Kopf. Außerdem versuchen wir natürlich die neue, spannende Erinnerung an einer präsenten Stelle zu deponieren. Sie soll doch schließlich nicht vom Nebel des Vergessens verhüllt werden.“

„Nein, natürlich nicht. Aber könnten Sie vielleicht eine Erinnerung aus meiner Jugendzeit bei der Gelegenheit löschen?“, fragte der Mann ganz aufgeregt.

„Das kann ich nicht garantieren, aber wir versuchen es. Welche Erinnerung ist es denn?“

„Die, als ich als kleiner Junge auf dem 10 Meter-Turm im Schwimmbad stand und mir den Sprung nicht zutraute. Die Anderen haben mich ausgelacht als ich die Leiter wieder runtergeklettert bin“. Eine leichte Schamesröte flog über die Wangen des Mannes.

Der Professor grunzte, blickte den Mann verwirrt an und setzte ihm die Memo-Haube auf den Kopf. Am Großrechner signalisierten diverse Leuchtanzeigen und Instrumente volle Bereitschaft. Auf dem Monitor baute sich das Bild einer hügeligen Wiesenlandschaft auf. Nur vereinzelt standen fraktale Gewächse in der Gegend und noch seltener waren kleine goldfarbene Säcke auszumachen. Diese Säckchen, das wusste Professor Schmidt-Rotkötter natürlich, enthielten die im Gehirn gespeicherten Erinnerungen eines Menschen.

Pah, dachte der Professor, dieser Mann hat ja wirklich kaum etwas erlebt! So wenig Säckchen kenne ich sonst nur aus den Gehirnen von Zweijährigen.
Dafür aber waren große Areale der Wiese durch undurchsichtige schwarze Wände verstellt. Hier hinter ruhten die Gedanken und Erinnerungen, die sich das Gehirn selbst lieber nicht ins Gedächtnis rufen wollte. Über allem und durch alles hindurch waberte der Nebel des Vergessens. Nur an Dinge, die nicht massiv von ihm eingehüllt waren, konnte man sich überhaupt entsinnen.

Als virtueller Karpfen flog der Doktor über die hügelige Landschaft und musste oft große Umwege um die schwarzen Areale machen. Mit Hilfe seines Joysticks lenkte er den Karpfen-Avatar vorsichtig zu den goldfarbenen Säckchen. Der künstliche Fisch öffnete sie vorsichtig mit seinem Maul und schaute hinein. Durch das Fischauge leicht verzerrt erblickte der Professor einzelne Erinnerungen. Hier eine, in der der Proband fast auf der Straße überfahren worden war, dort eine von einem fröhlichen Kindergeburtstag.
Endlich fand der Professor mit Hilfe weiterer Mess- und Navigationsinstrumente die Erinnerung des Mannes an den 10 Meter-Turm. Das goldene Säckchen war randgefüllt mit Angst und Scham. Der virtuelle Karpfen schlürfte die Erinnerung auf, schluckte sie hinunter und säuberte das Säckchen. Danach würgte er die spannende, neue Erinnerung hervor. Die war so groß, dass sie kaum in die goldene Hülle passte. Nachdem der Karpfen sie schließlich doch verstaut hatte, schlug der mit den Flossen und der Nebel des Vergessens verzog sich weiträumig.

Der Professor war zufrieden mit seiner Arbeit und fuhr den Kontrollrechner herunter. Anschließend entfernte er die Memo-Haube.

„Nun, wie fühlen Sie sich und an was denken Sie?“, fragte der weißgekittelte Schmidt-Rotkötter.

Noch etwas benommen überlegte der Mann auf der Liege, wie und vor allem was er dachte.
„Hmmm“, er reflektierte und fühlte in sich hinein, „ich denke gerade an das heutige Frühstück und die Bahnfahrt hierher. An die ganze Angst, die ich vor der Prozedur hatte. Aber Moment, da kommt eine Erinnerung in mir hoch: Ich durchschreite einen Urwald und bahne mir mit der Machete den Weg. Ich bin umgeben von stickiger, feuchtheißer Luft, undurchdringlichem Grün und fremdartigen Geräuschen. Tiefer und tiefer dringe ich in den Urwald vor. Ich spüre die unheimliche Energie einer uralten Macht. Plötzlich stehe ich auf einer Lichtung und vor mir erhebt sich eine große Pyramide. Sie ist mit Lianen überwuchert und es tanzen Halbaffen über die Steine. Vor mir sehe ich einen Eingang. Wie ein riesiges Schlangenmaul sind die Steine rund um den Zugang geformt. Dunkel, aber merkwürdigerweise von einigen Fackeln erleuchtet, verliert sich der Gang in den Tiefen der Pyramide. Ich denke, ich werde nun hineingehen“.

Etwas wie „Moment mal“, drang zu dem Mann durch.
„Moment“, rief der Professor ganz aufgeregt, „was denken Sie da eigentlich? Wir haben Ihnen doch die Erinnerungen an eine Schiffsreise eingepflanzt. Von Dschungel und merkwürdigen Pyramiden war da nie der Gedanke.“

Ganz aufgeregt setzte der Professor seinem Probanden wieder die Memo-Haube auf und startete den Rechner. Verzweifelt drückte er die Tastatur und starrte auf das irrwitzige Flackern der Anzeigen. Alles auf Rot, alles auf Vollaussschlag. Was war denn hier los?

Der Professor drehte sich hastig zum Mann auf der Liege um. Über dessen Körper irrlichterten fremdartige Leuchterscheinungen. Sein Leib löste sich langsam auf und wurde immer durchsichtiger. Ein schwaches inneres Leuchten war beim nun ganz glasigen Körper auszumachen. Seltsamerweise sprang in diesem Moment der Monitor an. Statt der gewohnten hügeligen Landschaft und den goldfarbenen Säckchen zeigte sich allerdings das Bild eines schwach beleuchteten Tunnels. Zügig nahm der fahrende Blick in den Tunnel an Geschwindigkeit zu. Immer schneller und schneller raste das Bild durch die geschwungene Röhre. Es ging nach unten und immer weiter nach unten. Plötzlich jagte alles auf ein Licht zu. Das Licht wurde grell und erfüllte innerhalb kürzester Zeit den gesamten Monitor. Der Professor hätte nie gedacht, dass sich diese Grellheit noch steigern ließe, aber tatsächlich wurde es nun so unglaublich sonnenhell, dass es ihm fast die Augen ausgebrannt hätte. Schützend riss er den Arm vors Gesicht und realisierte, wie zuerst der Monitor und dann der ganze Rechner explodierte. Der Professor taumelte nach hinten und brachte sich am Ende der Patientenliege in Sicherheit. Zu seinem Erschrecken sah er, dass in diesem Moment der Lichtschein auf der Liege erlosch. Der Körper des Mannes hatte sich endgültig aufgelöst.




Bericht im Hamburger Morgenblatt, etwa drei Wochen später:

Wie erst heute bekannt wurde, kam es am 3. des Monats zu einem folgenschweren Unfall am Institut für Imagination und Dreamologie. Der Leiter, Professor Doktor Doktor Schmidt-Rotkötter wurde dabei leicht verletzt. Auf unerklärliche Weise verschwand einer seiner Patienten im Zuge einer medizinischen Behandlung. Angeblich soll er sich in Nichts aufgelöst haben. Die Kriminalpolizei hat erhebliche Zweifel an der Darstellung des Institutsleiters.
Ob der Fall mit dem Hackerangriff in Zusammenhang steht, der sich vor einigen Monaten am Institut ereignet hatte, ist noch ungeklärt. Dabei hatten kriminellen Computerspezialisten einige wertvolle Erinnerungen aus dem Labor gestohlen. Solche Erinnerungen haben in letzter Zeit laut Angaben der Kriminalpolizei, zu einem regelrechten Boom auf dem Schwarzmarkt geführt. Angeblich ist auch Professor Schmidt-Rotkötter in den illegalen Handel mit Erinnerungen, die er gerne als das Salz in der Suppe des menschlichen Geistes bezeichnet, verwickelt.
Möglicherweise haben die Hacker bei ihrem Angriff wissentlich oder unwissentlich wichtige Behandlungsroutinen beschädigt. Aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen haben wir erfahren, dass nicht ausgeschlossen wird, dass das Verschwinden des Patienten auch mit anderen, noch vollkommen unbekannten Dingen, in Verbindung stehen könnte.

Letzte Aktualisierung: 18.04.2016 - 18.51 Uhr
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