Der verzauberte Wald | Mai 2016
Gretel und der Prinz von Bernd Kleber
Die Schritte hallen über den Steinboden. Es schmerzt mich an den Handgelenken und ich spüre angewidert, dass etwas ohne eigene Einflussnahme aus meinem Körper tropft. Was hat er gesagt? Wie im Märchenwald? Das stimmt, doch Hänsel war dort an meiner Stelle und es gab eine Hexe….
Mühselig hatte sie sich in das Café geschleppt. Als sie die Tür öffnete, lächelte sie. Der Duft machte sie glücklich. Wankenden Schrittes manövrierte sie grüßend am Tresen vorbei und neigte sich ihrer Lieblingstorte zu: Kirsch, Mascarpone, Schoko, Sahne waren die dominierenden Zutaten der Schneewittchen-Torte. Rot wie Blut, weiß wie Schnee und schwarz wie Ebenholz. Na gut, so schwarz war der Schokoanteil nicht. Nun aber sah sie sich im Gastraum um…
Da saß er, der Prinz: ihr Prinz. Himmel! Noch schöner als auf den Fotos im Internet. Dunkle lockige Haare, große, unschuldig dreinblickende Augen, blau wie die Sterne, die er ihr vom Firmament holen will…. Ein sinnlicher Mund, ein breites kantiges Kinn mit Grübchen. Grübchen im Kinn, schelmischer Sinn … zu süß, wie die Torte, die sie sich gleich bestellen würde.
Sie begrüßten sich. Sein schöner Mund streifte ihre rosige Wange. Er duftete nach Vanillin… zum Abschlecken lecker….
Als sie saßen, sprach er charmant über dies und das. Darüber, was er ihr alles Gutes tun würde und wie er sie beschützen wolle. Und, dass er sie umsorgen und immer für sie Dasein wolle… ein Märchen. Ihr Lächeln verging nicht mehr und wurde noch breiter, als Schneewittchen an den Tisch gebracht wurde. Er hatte zu einem Doppelstück geraten. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen.
Unter dem Tisch drückte sich warm sein Schenkel an den ihren … ihr Herz klopfte. Sie sah in seine Augen, als sie mit Genuss den ersten Löffel süßer Verheißung in ihren Mund schob. Er lächelte ebenfalls und seine Zunge strich diesen wollüstigen Mund feucht, genau in dem Augenblick, als sie ihre Geschmacks-Explosion erlebte.
So war der Nachmittag in sinnlicher Atmosphäre verrauscht. Seit sie das letzte Mal auf die Uhr geschaut hatte, waren drei Stunden vergangen und ein Eisbecher Märchentraum war noch den Schneewittchen-Schnitten gefolgt. Sie war glücklich.
Seine warmen Lippen berührten immer wieder den Handrücken ihrer linken Hand, die er hielt. Er sagte nette Dinge, wie, man lebe ja nur einmal und sie solle sich doch noch Sahne bestellen, denn die fehle auf dem Eisbecher schon … das sei ja die Krönung auf ihren Zuckerlippen. War das alles real? War dieser junge kräftige Mann wirklich ihr langerwarteter Prinz?
Ja, er war es. Er hatte sie täglich zuhause besucht und sie mit Süßigkeiten verwöhnt, die er mit der linken Hand zärtlich in ihren Mund schob, während die rechte eine glühende Zauberei zwischen ihren Schenkeln veranstaltete… Wie und was machte er dort? Sie kannte sich selbst nicht und war unter heftigem Zittern und Beben beim ersten Mal fast ohnmächtig geworden. Wie eine Blaupause hatte sich das euphorisierende Bild in Ihr Gedächtnis gebrannt, als er sich mit seinen schwarzen Locken über sie beugte. All ihre einsamen Jahre waren vergessen. Keine Abende mehr allein vor dem Fernseher. Jeder Tag wurde versüßt mit Leckereien und Köstlichkeiten, seinen magischen Augen und diesen geschickten Händen.
Er wohne im Märchenwald und er erwarte ihren Besuch am kommenden Wochenende, hatte er gezirpt. Er werde für sie kochen und backen und sie glücklich machen… am liebsten würde er das für immer. Ihr Herz raste wieder heftig. Wie das Laufrad eines unermüdlich rennenden Hamsters surrte es in ihrer Brust. Sie keuchte und musste husten. Eine Träne rann über ihre Wange, als sie die Zusage hauchte.
Dieses hypnotische Lächeln, das seine weißen Zähne aufblitzen lies, raubte ihr fast jedes Mal die Sinne. Alles würde sie für ihn tun, einfach alles. Aber das brauchte sie gar nicht. Er sorgte für sie!
Der Tag würde kommen, den sie ungeduldig erwartete. Jeden Morgen, wenn sie ihren massigen Körper zur Arbeit wuchtete, war ihr die Aussicht des Wochenendes Balsam. Die Kollegen hatten sie geneckt, sie leuchte ja förmlich, was denn passiert sei. Irgendwie waren ihr diese mühseligen Schritte über den Flur leichter gefallen als sonst, obwohl ihre Kleidung hartnäckig zwickte. Sie hatte in den letzten Wochen noch rasanter zugenommen. Nun ja, sie brauchte nur an etwas schnuppern und nahm ein Kilogramm zu. Das ist eben Veranlagung und anderen ging es da besser.
Dann fuhr sie endlich an den Stadtrand. Ihre Aufregung war unüberhörbar. Ihr Atem rasselte wie ein Vorortzug. Der Busfahrer fragte, ob er helfen soll beim Einsteigen, so sehr musste sie sich mühen. Sie lächelte ihn an und sagte lachend, danke. Auf einen Doppelsitz gequetscht, ignorierte sie die Blicke Stehender und sah aus dem Fenster. Noch nie war sie in diesen Teil der Stadt gefahren.
Tatsächlich standen hier viel mehr Bäume als Häuser. Ein besiedelter Wald! Es existierten kleine Grundstücke mit gepflegten Gärten. Der Weg von der Bushaltestelle schien ihr lang und endlos. Jeder Schritt ließ sie Schmerzen spüren, in der Hüfte, den Knien, dem Ischias und in der Lendenwirbelsäule. Einige Male blieb sie stehen, stellte ihren kleinen Rollkoffer aufrecht. Eine Tasche zu tragen, war ihr schon lange nicht mehr möglich. Sie bekam kaum Luft. Ihr Gewicht sei lebensbedrohlich für Herz und Kreislauf, unabhängig vom Knochenbau, hatte ihre Hausärztin gemahnt.
Ihr Prinz jedoch herzte und küsste jedes einzelne Gramm an ihr, jedes Mal. Seine Beteuerungen, jede Speckfalte an ihr zu lieben, brachte sie zum Schmunzeln. Er hatte ihr immer wieder Reste der Sahne mit seinen schlanken Fingern zärtlich in den Mund geschoben. Oft hatte sie ihr eigenes Erröten gespürt, wenn sie seine Finger ableckte.
Ein kleines Häuschen fand sie an der angegebenen Adresse vor…. Wunderschön leuchtete die hellbraune Farbe des Hausputzes in der Sonne. Die goldgelben Fensterläden machten es noch romantischer. Eine Heckenrose wuchs am Giebelspalier und blühte Duft verströmend. Nach ihrem Klingeln öffnete sich langsam die Tür und dieses charismatische Lächeln machte sie sofort wieder trunken. Er hielt ihre Hand beim Tritt über die Schwelle und sie fühlte, hier würde sie gern bleiben. Ein ganzes Wochenende…
Es wurden Wochen. Erst hatte er sie ohne Mühe zum Bleiben bewegt und am Montag sogar für sie in der Firma angerufen, sie sei unpässlich. Dann hatte er sie streng ermahnt, sie solle nicht traurig über die Kündigung sein. Vier Wochen Fehlen sei natürlich ein Grund, aber er sei ja bei ihr und kümmere sich um Alles.
Sie wollte eigentlich heim und mit ihrer Schwester telefonieren, meinte, man müsse doch Bescheid geben und nach dem Rechten sehen. Er hatte sie immer wieder vertröstet, für sie Pizza gebacken, süße Shakes gereicht und ihre Lippen liebkost. Manchmal hielt er sie fest umschlungen, fast zu fest, und fütterte sie mit Pudding. Während er zu schnell den Pudding in ihren Mund drängte, sie sich sträubte, hielt er sie immer fester und raunte ihr magisch klingende Worte ins Ohr.
Wenn es ihr übel wurde, strich er ihr zärtlich mit einem feuchten Lappen über die Stirn. Sie wusste nicht, wie lange sie von diesem Bett nicht mehr aufgestanden war, als sie immer dringlicher betonte, sie müsse auch einmal nach Hause.
Heute Morgen war sie erwacht und hatte erst an eine Muskelschwäche geglaubt, sie konnte die Arme nicht heben. Dann aber sah sie, dass jedes ihrer Handgelenke eine Schlinge umschloss, welche am Bett befestigt war. Er hatte sie gefesselt! Was war das für ein neues erotisches Spiel?
Sie rief nach ihm. Er kam nicht. Sie musste ihre Notdurft nach Stunden ins Bett verrichten und weinte. Als er dann das Zimmer betrat, zeigte er dieses süßliche Lächeln beim Waschen und Umsorgen. Und sofort hatte er wieder diese klebrige süße Creme zur Hand und strich Löffel um Löffel unnachgiebig in ihren Mund….
… doch das hier ist der Teufel. Er betritt das Zimmer. Gekleidet in einem leuchtend roten Jogginganzug. Ich sehe die Erektion in seiner engen Hose. Er flüstert, die feuchten Lippen an mein Ohr gelegt: „Nicht mehr lange meine süße Kugel, und du beginnst an den ersten Stellen zu platzen. Aber ich bin hier und pflege dich, bis der Tod uns scheidet …“. Nun gluckst er und reibt sich wie so oft an mir….
*Das (gefährliche, weil sehr gesundheitsschädliche) Feeding ist in der medizinischen Welt nicht unbekannt, dort fällt die Neigung unter den Überbegriff der Paraphilie, also eine psychische Störung die Sexualität betreffend. Unterschieden wird beim Feeding zwischen dem Feeder, dem der füttert, und dem Feedee, der Person, die sich füttern lässt.
Letzte Aktualisierung: 21.05.2016 - 19.33 Uhr Dieser Text enthält 8735 Zeichen.
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