Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
„Wer seid ihr?“ Der dunkelhaarige Mann machte drohend einen Schritt auf die vier Wanderer zu. „Und was habt ihr hier verloren?“
Bülent legte schützend den Arm um Anne, Felix trat vor.
„Sei vorsichtig!“, flüsterte Marion hinter seinem Rücken.
Vermutlich brauchte er die Warnung nicht, denn sowohl der Dunkelhaarige als auch seine beiden rothaarigen Begleiter, alle schmutzig und in Lumpen gekleidet, hielten lange Messer in den Händen.
„Falls wir irgendwelche Gesetze übertreten haben, tut es uns leid“, sagte Felix. Marion registrierte, dass er den Tonfall benutzte, mit dem er Streitereien auf dem Schulhof schlichtete. Geschlichtet hatte, korrigierte sie sich in Gedanken.
Felix sprach weiter. „Wir wollten nur durch diesen Wald wandern. Sonst nichts. Leider haben wir uns verlaufen. Könnt ihr uns vielleicht den Weg zeigen? Wir möchten zum Hotel ‚Wild Boar‘.“
Der Dunkle sah die Gruppe misstrauisch an. „Wandern? Seid ihr Spielleute? Wo sind eure Instrumente?“ Er trat zu Felix und befühlte dessen Funktionsjacke. „Was sind das für feine Stoffe? Nein, ihr seid reich und wollt nur ungeschoren davonkommen.“
Die beiden Rothaarigen lachten rau. „Das wollen sie alle“, meinte der Ältere und begann demonstrativ mit seinem Messer zu spielen.
Marion klopfte das Herz bis zum Hals. Die Situation war so surreal. Waren sie in eine LARP-Convention geraten? Reenactment? Andererseits wirkte die Bedrohung angesichts der Messer sehr real. Auch der Gestank, der von den Männern ausging, sprach eher gegen eine Kostümierung.
Sie trat hinter Felix hervor. „Bitte, können Sie uns nicht helfen? Wir haben uns wirklich nur verlaufen.“
Der Dunkle erstarrte. Mit weit aufgerissenen Augen stand er bewegungslos vor ihr. Marion reckte das Kinn in die Höhe und starrte zurück.
„Wer bist du?“ Seine Stimme war noch heiserer als vorher.
„Marion.“ Sie meinte ihr Gegenüber zusammenzucken zu sehen. „Und das sind Felix, Bülent und Anne. Können Sie uns–“
Der Dunkle wandte sich zu seinen Begleitern. „Wir bringen sie ins Lager.“
„Was?“ Der Ältere war sichtlich enttäuscht. „Das ist zu gefährlich! Außerdem hatte ich mich auf ein bisschen Vergnügen gefreut.“ Er fasste sich zwischen die Beine.
Der Dunkle versetzte ihm einen Fausthieb an die Schulter, sodass er zurücktaumelte. „Niemand rührt sie an.“ Drohend sah er vom Älteren zum Jüngeren. „Niemand! Und jetzt los!“
Der Ältere rieb sich die Schulter, wandte sich wortlos ab und ging los.
„Ihr habt’s gehört!“ Der Jüngere fuchtelte mit seinem Messer und trieb sie dem Älteren hinterher. Der Dunkle bildete den Schluss.
Das Lager stellte sich als eine Ansammlung von primitiven, winzigen Hütten aus Holzstangen und Zweigen heraus. Mehrere Männer, alle so zerlumpt wie ihre Entführer, standen bei ihrem Eintreffen auf und sahen ihnen feindselig entgegen.
„Der da hinten hat eine Mönchskutte an“, flüsterte Anne. „Sollen das hier Robin Hood und seine lustige Bande sein? Der Riese da links ist dann Little John.“
„Vor allem lustig“, murmelte Felix, der daraufhin einen Stoß in den Rücken bekam. Er stolperte gegen seine Vorderleute und sie taumelten direkt in die Mitte des Lagers.
Marion sah, wie mehrere der Männer bei ihrem Anblick scharf Luft holten. Der Dunkle ging zu einem Mann mit vernarbtem Gesicht und flüsterte heftig gestikulierend mit ihm. Schließlich kam er zurück. Er vermied es, Marion direkt anzusehen.
„Ihr dürft jetzt unsere Gastfreundschaft genießen“, sagte er. „Esst und trinkt. Morgen früh, nachdem ihr bezahlt habt, dürft ihr eures Weges gehen.“
Marion sah in den Gesichtern der anderen ihr eigenes Entsetzen gespiegelt. Sie sollten die ganze Nacht hierbleiben? Dieses Lager war alles andere als einladend, und außerdem hatten sie Zimmer im Wild Boar gebucht. Und diese Männer ...
Bülent trat vor. „Entschuldigt, aber wir sind nicht von hier. Wir wollten –“
„Dort ist euer Nachtlager“, sagte der Dunkle, ohne Bülent zu beachten, und wies auf eines der Astgestelle. Er wandte sich an Marion. „Du kommst mit mir.“
Marion erbleichte. Felix versuchte ihren Arm zu greifen, doch die Männer drängten ihn, Bülent, und Anne ab und stießen sie zu ihrer „Unterkunft“. Der Dunkle nahm Marions Arm und zog sie mit sich, bis sie außer Sichtweite des Lagers mehrere Felsen oberhalb eines kleinen Baches erreichten.
Er nahm Marion den Rucksack ab und lehnte ihn an einen Felsen. „Setzt Euch“, sagte er.
Marion gehorchte und setzte sich auf einen der Felsen, die Knie fest aneinandergepresst.
Der Dunkle setzte sich ihr gegenüber und sah sie an. „Wer seid ihr wirklich und was wollt ihr hier?“
Marion versuchte, genug Spucke zu sammeln, um sprechen zu können. „Wir ... sind wirklich nur Wanderer.“ Sie schlang die Hände um ihre Knie. „Wir machen hier Urlaub zur Feier unseres Schulabschlusses. Wir haben Zimmer im Wild Boar gebucht.“
Der Dunkle sah sie aufmerksam an.
Marion nahm all ihren Mut zusammen. „Und wer sind Sie?“
„Ihr wisst es wirklich nicht.“ Der Dunkle schien mehr zu sich selbst zu sprechen.
Plötzlich ertönte aus dem Lager ein Schrei. „Das war Felix! Was macht ihr mit ihm?“ Marion wollte aufspringen, aber ihr Körper schien sich von ihr abgetrennt zu haben.
Der Dunkle stand auf. „Ich werde nachsehen. Ihr wartet hier.“ Damit verschwand er.
Marion versuchte, ihre Muskeln wieder in den Griff zu bekommen, aber bevor es ihr gelang, war der Dunkle wieder da.
„Der Junge wollte den Helden spielen und hat eins auf die Nase bekommen. Nichts, was ihn umbringt.“ Er setzte sich wieder.
Marion starrte ihn entsetzt an. Nur langsam drang die Erkenntnis durch, dass alle noch am Leben waren.
Der Dunkle musterte sie wieder. „Ihr seht aus wie ... jemand, den ich mal kannte“, sagte er. „Ihr tragt sogar denselben Namen.“ Er rieb sich über das Gesicht. „Aber Ihr seid es nicht. Will hat geschworen, dass sie immer noch im Kloster ist. Wer seid Ihr also?“
„Will?“ Marion unterdrückte ein hysterisches Kichern. „Doch nicht etwa Will Scarlett?“
Die Augen des Dunklen verengten sich. „Ihr wisst also doch, wer wir sind. Warum lügt ihr?“
„Dann sind Sie wohl Robin Hood?“ Marion wusste nicht, wo sie den Mut zum Sprechen hernahm. „Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert! Nicht im dreizehnten!“
„Im Jahre des Herrn 1265, wenn ich mich nicht täusche. Lenkt nicht ab.“
Sie konnte die Mischung zwischen Lachen und Weinen, die in ihr hochstieg, nicht mehr beherrschen. So also ist es, dachte sie noch, wenn man einen Nervenzusammenbruch bekommt.
Sie spürte, wie sie am Arm hochgezogen und durch den Wald geschleift wurde. Inzwischen war ihr Lachen verebbt und sie wurde von unkontrolliertem Schluchzen geschüttelt, das sie nicht stoppen konnte. Nur undeutlich bekam sie mit, was geschah.
„Ihr widert mich an“, hörte sie den Dunklen sagen. „Ihr beschmutzt eine sehr kostbare Erinnerung. – Bringt sie weg! Alle. Sofort!“
Marion erwachte mit einem Gefühl von Erleichterung. Zum Glück nur ein Traum. Sie ließ den Kopf zurücksinken und stieß an etwas Hartes. Eine Wurzel. Sie setzte sich auf. Um sie herum dichter Wald, neben ihr lagen Felix, Anne und Bülent. Felix atmete röchelnd durch den weit aufstehenden, blutverkrusteten Mund, weil seine Nase unförmig geschwollen war. Marions Schrei weckte die anderen, die sich verwirrt umsahen.
„Oh Mann“, stöhnte Anne und rieb sich die Augen. „Wir hätten die Kekse nicht vor der Wanderung essen sollen. Ich glaube, ich hab die Dosierung verhauen.“
Eine nach dem anderen setzten sie sich auf. Felix fasste sich ins Gesicht und zuckte zusammen.
Marion starrte Anne an. „Du hast was?“
„Na ja ...“ Anne pulte verlegen einen Zweig aus dem Boden. „Ich hatte ein paar Pilze übrig, als ich die Kekse für die Wanderung gebacken hab. Mann, war das ein Trip! Ich war in Robin Hoods Lager und Little John hat Felix die Nase ...“ Anne hielt inne und sah Felix an.
„Ein Trip“, echote Marion tonlos.
„Und alle denselben?“ Bülent schüttelte den Kopf. „Niemals. Oder hat einer von euch was anderes erlebt? Was wollte dieser Pseudo-Robin-Hood eigentlich von dir, Marion?“
„Keine Ahnung“, sagte Marion leise. „Er hat was davon gesagt, dass ich jemandem ähnlich sehe, dann hatte ich einen Nervenzusammenbruch und er hat mich ins Lager zurückgezerrt.“
Felix nahm sie in den Arm. „Er hat nicht ...?“
Marion schüttelte den Kopf.
Bülent stand auf. „Wir müssen erst mal aus diesem Wald raus.“ Er sah sich um. „Hey, da stehen unsere Rucksäcke!“
Marion ging hin und nahm ihren auf den Rücken. Ob etwas fehlte, würde sie später herausfinden, jetzt wollte sie nur noch weg. Die anderen taten es ihr nach. Sie gingen in die Richtung, in der der Wald lichter zu werden schien.
Bülent, der vorausging, zeigte nach vorn. „Da ist ein Weg!“
Erleichtert stolperten sie weiter, und als sie durch die Bäume ein Haus erkannten, musste Marion Tränen der Erleichterung zurückhalten.
„Das ist der Wild Boar“, stellte Anne staunend fest, als sie näherkamen.
„Und es stehen Autos davor!“ Noch nie hatte Marion sich so gefreut, Maschinen des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu sehen.
Nachdem sie an der Rezeption erklärt hatten, dass sie sich verlaufen und die Nacht im Wald verbracht hatten, bezogen sie zwei Doppelzimmer. Geduscht und umgezogen trafen sie sich zum Mittagessen im Speiseraum.
„Von meinen Sachen fehlt nichts, und bei euch?“ Anne sah in die Runde, die anderen schüttelten die Köpfe. „Und was, wenn kein Trip, soll das bitte gewesen sein? Wir haben die Kekse schließlich gegessen. Alle.“
„Ich habe noch nie gehört, dass alle auf demselben Trip sind. Noch dazu, ohne sich abzusprechen“, sagte Bülent. „Aber von einem Rollenspiel- oder Reenactment-Treffen weiß hier niemand was.“
„Das gibt es hier nicht“, sagte die Landlady, die an ihren Tisch gekommen war, um sie zu begrüßen und ihre Bestellung aufzunehmen, „schon gar nicht während der Maifeierlichkeiten.“ Sie sah aus dem Fenster. „In dieser Zeit werden die Grenzen zwischen den Welten durchlässig und der Wald erwacht zu seinem alten Leben, heißt es. Da bleibt niemand freiwillig über Nacht dort.“ Sie lächelte und wandte sich der Gruppe zu. „Was darf ich Ihnen bringen?“
Letzte Aktualisierung: 19.05.2016 - 07.20 Uhr Dieser Text enthält 10305 Zeichen.