Miriam lebte mit ihrem Vater in einem Hochhaus in einem kleinen Vorort einer großen Stadt. Es war eine Plattenbausiedlung, die damals als Inbegriff der Moderne galt und von Einkaufspassagen umringt zumindest durch die orange Hausfassade aus dem Rahmen stach. Es war eine 3-Zi-Wohnung mit einem langen doch recht schmalen Balkon, der sich über zwei Zimmer erstreckte. Miriam bewohnte das 10. Stockwerk und hatte so doch zumindest einen passablen Ausblick auf die Umgebung. Diese war jedoch alles andere als vielversprechend, denn Miriam war umgeben von weiteren Hochhausblöcken, einer kleinen Kapelle, Supermärkten mit großen Parkplätzen und nur vereinzelt waren zumindest die Gehwege von einer kleinen grünen Wiese umsäumt. Der Hausflur zu ihrer Wohnung war eng und langgezogen und beherbergte weitere 10 Familien, so dass es mitunter recht geräuschvoll zuging, da die Wände doch recht dünn waren. Auch hielten zur Mittagszeit die unterschiedlichsten Gerüche Einzug in ihr Wohnzimmer, so dass ihr manchmal das Wasser im Munde zusammenlief und sie sich gar nicht entscheiden konnte, was sie nun eigentlich kochen sollte. Miriam ging nicht viel vor die Türe, denn seit einem tragischen Verkehrsunfall, bei dem ihre Mutter ums Leben kam, war sie die meiste Zeit an den Rollstuhl gefesselt, der zudem recht sperrig war und auch nur schlecht in den doch recht schmalen Aufzug passte. Miriam war also auf die Hilfe ihres Vaters angewiesen um sich draußen bewegen zu können. Dieser war jedoch wochentags beruflich stark eingebunden und so blieben ihr nur die gemeinsamen Ausflüge am Wochenende. Vater gab sich dann immer ganz besondere Mühe mit ihr und entführte sie in die abgelegensten Orte mitten im Grünen. Dort kehrten sie nach einer ausgiebigen Spazierfahrt auf den Schotterwegen, denn die versteckten Waldpfade waren für sie unerreichbar, meist in einem kleinen Landgasthof ein und Miriam liebte es dann, gerade im Sommer, auf den Terrassen die Besucher und Wanderer zu beobachten. Sehnsuchtsvoll verfolgte sie dann die ausladenden Schritte, mit welchen sich diese auf den Weg in den nahe gelegenen Wald begaben, in welchem sie als Kind so gerne gespielt und sich verzaubern hat lassen. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie in den Waldtümpeln ihre ersten Kaulquappen und Molche gefangen hat, durch die Mooshänge sprang und sich in ein Pferd verwandelte das ungestüm dahingaloppierte, durch das Unterholz pirschte wie ein Indianer auf dem Kriegspfad. Ja sie hatte es geliebt sich als Kind im Wald aufzuhalten und immer wieder Neues zu entdecken: Die ersten Ameisenhügel, die sie stundenlang beobachten konnte, wie die kleinen Waldbewohner emsig und unermüdlich auf ihren Straßen schwer beladen dahinströmten. Vereinzelt hatte sie sogar Rehe gesehen, die in wilden Sprüngen die Abhänge hochjagden, Hasen die aufgescheucht wilde Haken schlugen, Mäuse die durch das gefallene Laub raschelten, selbst Füchse hatte sie gesichtet, die leichtfüßig durchs Gehölz strichen. Nicht zu vergessen die Wildschweinspuren, die sich im Boden eingegraben und der Geruch der Schwarzkittel, der ihr noch lange in der Nase stach. Selbst ein kleines Käuzchen hatte sie einmal versehentlich aus seiner Baumhöhle geschreckt und mit staunenden Augen dem lautlosen Flug nachgeschaut. Was hatte sie nicht schon alles erlebt im Wald, wenn sie herumstromerte und sich auf wilde Abenteuer begab! Nun war sie gefesselt im Rollstuhl und die ausgetretenen Kieswege, die sie noch beschreiten konnte, gaben nicht einen Zoll ihrer einstigen Erlebnisse preis. Nur das Rauschen der Blätter, die sich im Wind wogen waren ihr noch geblieben und so schloss sie oftmals die Augen und ließ sich forttragen von der damit verbundenen Melodie. Wieder zu Hause angekommen, malte Miriam mit Vorliebe Bilder ihres Waldes und versuchte das Rauschen in Farben einzufangen, was, wie ihr Vater bemerkte, ihr immer besser gelang. Ihr Vater hatte ihre Liebe zur Malerei entdeckt und ihr eine komplette Ausrüstung mit Pinseln und Stiften besorgt. Miriam verfügte mittlerweile über eine richtige Staffelei und ihr Zimmer hatte sich im Laufe der Jahre mit etlichen Bildern gefüllt. Ihrem Motiv ist sie jedoch immer treu geblieben und so entstanden unzählige Varianten von Wäldern, die Miriams inneres Auge unermüdlich zu produzieren schien. Miriam war ganz verzaubert von ihren Erinnerungen und auch damit verbundenen Wünschen. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass zumindest ihr Vater sie verstand, denn immer wieder gelang es ihm, sie mit Überraschungen zu verblüffen. Miriam bemerkte auch heute, dass ihr Vater seit einigen Tagen immer ein sehr verschmitztes Lächeln auf den Lippen hatte, so als wenn er etwas ausheckte und seine Augen hatten dabei einen ganz besonderen Glanz. Auf ihre Fragen antwortete er jedoch nicht und meinte nach weiterem Nachbohren: „Ich schenke dir bald einen Wald“ Miriam wusste nicht so recht was sie davon halten sollte, denn sie wusste, dass ihr Vater keineswegs über die finanziellen Mittel verfügte ein Grundstück zu erwerben. Sie wusste jedoch auch, dass ihr Vater sehr viel Fantasie hatte und wartete nun ungeduldig auf ihren versprochenen Wald. Jeden Tag fragte sie nun danach und ihr Vater antwortete jedes Mal mit einem „Habe noch etwas Geduld. Er muss noch wachsen.“ Miriam, gegen ihre Ungeduld ankämpfend, vertrieb sich weiterhin ihre Zeit, in dem sie Bilder malte, die ihr Vater, wie sie bemerkte, eingehend studierte.
Und dann kam endlich der große Tag! Ihr Vater weckte sie am frühen Morgen auf, wirkte etwas verschwitzt in seinem Hemd und seine Augen zeigten kleine bläulich gefärbte Ringe, so als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. „Es ist soweit“, sagte er nur und hob Miriam behutsam in ihren Rollstuhl und bugsierte sie Richtung Balkon. Miriam traute ihren Augen nicht was sie da sah. Der ganze Balkon hatte sich über Nacht in einen Zauberwald verwandelt! Klitzekleine Bonsaibäumchen reihten sich aneinander, aber auch zurechtgestutzte Obstbäume, Weiden, Birken und Ahörner hatten Einzug gehalten. Auch kleine Tannen waren zu sehen und zwischen den einzelnen Töpfen, die von Moosflächen begrünt und mit Rindenmulch bedeckt, wuchsen sogar ein paar Pilze. Da es Frühling war, sprossen aus dem Geäst nur so die Blüten und Knospen und selbst Maiglöckchen schimmerten in ihrem Weiß mit leuchtender Kraft. Miriam war überwältigt. So schön waren noch nicht einmal ihre Bilder, obgleich sie diese in einigen Arrangements wiederzuerkennen vermochte. Auch ein Vogelhäuschen hatte Vater angebracht und wie es schien, würden die ersten Gäste nicht lange auf sich warten lassen, denn schon machte Miriam eine Kohlmeise aus, die sich in den 10. Stock verirrt zu haben schien. Mit Tränen in den Augen dankte Miriam ihrem Vater für dieses Wunderwerk, rollte mit ihrem Rollstuhl ganz alleine in die Mitte ihres Waldes und genoss den Hochsitz, den sie nun hatte, um sich in einen Luchs zu verwandeln, der das Treiben der Welt beobachtete und jede Sehne des Körpers spürte, der sich jetzt ganz geschmeidig anfühlte.
Letzte Aktualisierung: 02.05.2016 - 19.16 Uhr Dieser Text enthält 7102 Zeichen.