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Der verzauberte Wald | Mai 2016
Wollust
von Peter Vierke

Der Sumpfeichenwald in der norddeutschen Tiefebene hat einen Bestand von ca. tausend hundertjährigen Eichen. Ihre mächtigen Stämme und prächtig blühenden Kronen sorgen speziell zur Abenddämmerung für eine berauschende Kulisse.
Man könnte meinen, dass die alten Baumgiganten sich gegenseitig stützend Gedichte zuflüstern. Ihre knorrigen Äste umschlingen sich, gleich wollüstigen Paaren.

Die Nähe zur Nordsee lässt sich unschwer erkennen. Weite Marschlande und hügelige Geestrücken erstrecken sich bis zum silbernen Horizont.
Dieses Ensemble hölzerner Waldgeheimnisträger hält sich hier seit Jahrtausenden.
Wacker trotzen sie kollektiv Wetter, Zeit und Mensch.

Seinen Zauber gibt er nur an einem Tag im Jahr preis. Dann erscheinen sämtliche Mysterien, die dieser Eichenhain beherbergt, auf der Spielfläche des Lebens.
Die verschlungenen Pfade in sein blickdichtes Inneres sind dunkel, eng und unwegsam, so dass es einem nur mühsam zu Fuß gelingt dorthin zu kommen.
Als Alternative zum beschwerlichen Fußmarsch bietet sich ein kleiner Fluss an. Der windet sich sachte bis zu dem Ort des jetzigen Handelns. Die meisten Gäste sind per Ruderboot angereist.

Der Zauber des herannahenden Abends legt sich über den Waldsee. Am gegenüberliegendem Ufer zanken vier Erpel um die beste Choreographie ihres lustvollen Tanzes. In der Mitte des Sees dreht ein altverliebtes Schwanenpaar in Erinnerung an einstige Schwanereien schwelgend seine Runden.

Die saftigen Fruchtstöcke der Pompesel neigen sich sachte im Takt des milden Frühabendwindes. Am diesseitigen Ufer sitzt ein verliebtes Pärchen. Ihre innigen Umarmungen sind nicht weniger rhythmisch als der Ententanz von gegenüber.

Der Gastwirt und gleichzeitige Betreiber der Wassermühle, Robert, ein grobschlächtiger Mittvierziger mit reichlich Dampf und freundlichster Energie ausgestattet, stellt gerade die letzten Tische, Stühle, Fässer und Schirme in seinem Gartenrestaurant auf.

Er ist die alteingesessene, allwissende Seele dieses besonderen Sumpfeichenwaldes. Schon die Väter seiner Väter waren das auch.
Nur Robert allein kennt die Phänomene, die diesen Wald von allen anderen unterscheidet

Einmal im Jahr, jeweils am dritten Maisamstag, findet das allseits beliebte Mühlenfest bei Robert, statt.

Das Motto für diese Abende ist seit vielen, vielen Jahren dasselbe:

*Willkommen zum Mühlenfest bei Robert*
*Im verzauberten Wald*
*Wollust lodert*


Das frisch erblühte Eichenrund, in der sich das Wassermühlenlokal befindet, ist an 364 Tagen eines wie jedes andere. Das ändert sich schlagartig am besagten Samstag.

Roberts wollüstiges Versprechen ist in den zurückliegenden Jahren mehr als einmal in Erfüllung gegangen.
Dieser beispiellos märchenhafte Ort hat für verliebte Paare oder solche, die sich hier erst lieben lernen wollen oder werden, eine besondere Ausstrahlung und Anziehungskraft.

Einer von Ihnen ist der 29 Jahre alte Bruno. Alle zurückliegenden Feste sind stets unerotisch für ihn verlaufen. Doch heute, so hat er sich das FEST vorgenommen, soll auch er endlich zu den glücklichen Wollustwandlern gehören.

Einzelgänger, wie Bruno einer ist, müssen ihren inneren Schweinehund gut abrichten. Seine Menschenscheu ist seinem Lebensstil als Eremit geschuldet. Seit seinem 20. Lebensjahr lebt er alleine. Im Grunde genommen könnte es ihm nicht besser gehen.

Wenn… ja wenn da nicht immer diese Wollustschübe wären. Vergeblich hat der leidenschaftliche Einzelgänger versucht diese zu ignorieren.
Unter den Gästen des Wassermühlenfestes gilt er deshalb als Sonderling. Bruno ist ein Mann, der Frauenblicke anzieht und ihre Besitzerinnen in stille Schwärmereien geraten lässt. Doch seine unnahbare Körpersprache schreckt sie alle ab.

Als er das Mühlenfest gegen 21.00 Uhr zu Fuß erobert, ist die Stimmung schon sehr ausgelassen.
Angereichert mit frisch gezapftem Bier aus den robertschen Fässern turteln die so sehr wollüstigen jungen Männer und Frauen hemmungslos drauflos.
Auf der kleinen Tanzfläche des Gartenlokals winden sich engumschlungene Paare zu heiß-frivolen, mediterranen Klängen.
Diese werden von einer vierköpfigen Fadocombo und deren, auf einem Barhocker sitzenden Sängerin, lasziv und sehr melancholisch vorgetragen.

Weiße Nebelgeister klettern furchteinflößend an den Ufern des tagsüber aufgeheizten Mühlensees aus den Wässern. Der rauschende Mühlenbach, der aus ihm gespeist wird, lässt frisches Eichenlaubgezweig taktvoll zur Musik tanzen.

Am gegenüberliegenden Ufer, dort, wo vorhin die flatterhaften Enten ihren infernalen Tanz aufgeführt hatten, steigt eine Seefee grazil aus dem nebligen Gewässer.
Sie besitzt die besondere Eigenschaft, dass sie direkt nach dem Auftauchen trocken ist.
Keinem der Mühlenfestgäste, bis auf den Gastgeber, ist dieses Phänomen aufgefallen.

Eine halbe Stunde sitzt sie, das Spektakel auf der anderen Seite beobachtend, unter den schützenden, in voller Blüte stehenden Zweigen der einzigen Trauerweide des Waldes.
Dutzende blaue Eichenzipfelfalter umkreisen sie beim Verlassen der trauernden Weide

Mit wiegenden Schritten nähert sie sich jetzt der stimmungsvollen Mühlenseeparty.

Bruno, der seit seinem Eintreffen, so wie jedes Jahr, einsam auf einem abseits vom Trubel stehenden Gartenstuhl sitzt, ist in seine wollüstigen Gedanken versunken. Er beobachtet die verliebten Paare mit neidvollen, brunoesken Argusaugen.

„Ach, könnte ich meiner schüchternen Eremitenseele doch nur den nötigen Schwung oder Impuls versetzen,“ denkt er, während die Seefee bereits am Eingang des Gartenlokals angekommen ist.
Die sowohl traurigen, als auch lieblichen Fadoklänge durchfluten die Szeenerie. Sie ver -und bezaubern eine Jede und einen Jeden. So auch die Fee.

In dem Moment, als sie die Tanzfläche betritt, richten sich alle Augen auf sie.
Ihr Körper scheint im Vollmondschein dem einer Lust -und Liebesgöttin wie Aphrodite zu gleichen. Sie gibt sich den sentimentalen Weisen mit jeder Faser hin.
Ihre Lenden wenden sich geschmeidig von einem zum anderen. Doch keinem gelingt es ihre Aufmerksamkeit zu wecken.

Bruno, dem, seit er die Schönheit erblickt hat, noch viel wollüstiger als vorher zumute ist,
ergötzt sich an ihrer feengleichen Erscheinung.
Langsam, sehr langsam, kriecht das wilde Wollustluder bis hoch in seine Brust. Diesmal scheint es siegen zu wollen.
Als ihre verliebten Blicke sich treffen meint Bruno eine Stimme zu hören:

„Das ist sie!“

Ihm ist sofort bewußt, dass dies sein Weltmoment ist.

Als Robert die Szeene bemerkt, nickt er ihm aufmunternd lächelnd zu.

„Jetzt oder nie!“

Ruft die Stimme ihm zu.

Bruno wirft all seine Contenance über Bord und begibt sich zu den Tanzenden.
Aus den Mündern der anwesenden Männer klingt leises, wiederkäuendes, wollüstiges Stöhnen. All ihre Sinne verzehren sich an ihrer, der Fantasie schmeichelnden, Figur.

Als er sich vorsichtig nähert, schaut sie mit einem verführerischen Augenaufschlag, so wie ihn nur Seefeen schlagen, für den Bruchteil einer Seekunde direkt in seine vor *Wollust auf den ersten Blick* leuchtenden Augen.

Beide versinken in dieser Romanze.

Der folgende Zauber wird dem Einzelwanderer sein ganzes Leben in Erinnerung bleiben…

In dem Moment, als sie sich zärtlich nähern, in eben jenem Moment, als Bruno sie das erste Mal schüchtern zu berühren versucht, ist sie plötzlich unsichtbar.

Die furchtbare Enttäuschung über das Schwinden der Augapfelverwöhnerin ist ihm ins Gesicht gezeichnet

Zwei Stunden lang starrt der ach so enttäuschte junge Mann vor sich hin. Er kann und will das eben Erlebte nicht vergessen. Bruno sucht das gesamte Gelände ab. Mittlerweile sind alle anderen Gäste gegangen und geben sich, wo auch immer, ihrer Wollust hin. Doch…
Die Schönheit bleibt unauffindbar.

Mit einem Glas Bier in der Hand setzt er sich auf die hölzernen Buhnen am Ufer. Der Kummer über ihren Verlust schmerzt ihn sehr.

„Soll das schon alles gewesen sein, hat das Leben nicht mehr für mich übrig? Kann es sein, dass mein Schicksal es so ungnädig mit mir meint?“ Denkt der Verzweifelte.
Das wollüstige Bauchkribbeln setzt beim Gedanken an die feengleiche Erscheinung sofort wieder ein.

Aber was ist das? Schlag Mitternacht glaubt er sie am Grund des Mühlensees zu erkennen!

Ihren wollüstigen Augenblicken kann Keine das Wasser reichen, nicht einmal die schönste aller Aphroditen.
Sie winkt ihn verführerisch lächelnd zu sich.
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, lässt er sich, in den vom Vollmond hell illuminierten Mühlensee gleiten, bis zum be-rauschenden Grund-Gemach der Fee hinab.

Gut zwei Stunden nach Mitternacht beobachtet Robert mit seinem typisch breitem Robertlächeln, dass Bruno am Bootsanleger trocken und GLÜCKlich aus dem See steigt.

Wer später folgendes Gedicht, mit wasserfestem Lippenstift quer über einen der Gartentische geschrieben hat, wissen nur Robert und die Eichen des verzauberten Waldes:

Hinter vorgehaltenen Ästen flüstern sich die Sumpfeichen das Seefeengedicht seehr leise zu…


Wollust

Stetig rauschen wilde Wässer,
spielen mit jungem Gezweig.
Vor der Mühle stehen Fässer,
der Abend hin zur Nacht sich neigt.

Saftig wiegen die Pompesel
ihren Fruchtstock, schön im Takt.
Genauso saftig wie der Schnösel,
den die Wollust grade packt.

Seehr grazil und gediegen
tanzt die Seefee, wundervoll.
Sie ist den Wässern grad entstiegen,
lässt keinen ran, ihm wird so toll.

Leise stöhnen offne Munde,
wiederkäuen jene Lust.
Lendenwenden lässt vom Grunde,
diese steigen, in die Brust,
ihre Magie entfaltet Kräfte,
die Schönheit flieht den Blicken,
im Innern kochen heisse Säfte,
die Wollust fühl ich zwicken.

Nach Hause wanken nun die Duhnen,
nur ich bleib dort am Mühlensee.
Setz mich ans Ufer auf die Buhnen,
plötzlich erscheint am Grund die Fee.

Sie hat mir lieblich zugewunken,
ich zögere kein Augenblick.
Bin eben grad in ihr ertrunken.
DIE WOLLUST IST EIN GROSSES GLÃœCK!

Letzte Aktualisierung: 21.05.2016 - 20.50 Uhr
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