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Der verzauberte Wald | Mai 2016

Abnehmender Mond
von Eva Fischer

Die Stimmen schwirrten wie Schmetterlinge durch die Luft, prallten gegen eine gläserne Wand und verschwanden lautlos. Sie schaute auf die Münder, die sich zu einem Lachen verzogen, sich öffneten und schlossen wie Fischmäuler. Ab und zu wurden sie mit einem Schluck Bier aufgetankt.

Herta, ihre Nachbarin, hatte Maria zu diesem Fest überredet. Hertas Falten waren mit dicker Schminke übertüncht, der Mund rot geschminkt, was ihr in Marias Augen ein clowneskes Aussehen verlieh. Jetzt plusterte sich Herta wie eine Henne auf, um dem dickbäuchigem Erwin zu gefallen, der sie beäugte wie ein Habicht auf der Suche nach seiner Beute.
In der Mitte des Platzes stand ein Maibaum. Bunte Kreppbänder flatterten an seinen Ästen, sollten dem Abgeholzten den Anschein neuen Lebens geben. Kinder umkreisten ihn in einem Freudentanz angefeuert von der Musik, die aus den Lautsprechern ertönte. Es roch nach Bratwürsten, die auf einem Grill vor sich hin brutzelten. Rauchschwaden stiegen auf und stellten die Gesichter der Grillmeister unscharf.

Maria wandte den Blick ab von der wogenden Menge und schaute sehnsüchtig auf die hohen Tannen und die frisch knospenden Buchen und Eichen, die unweit des Platzes in den Himmel ragten. Sie wollte weg von dieser lärmenden Welt, hin zu einem Ort, wo nur das Klopfen des Buntspechtes, das Rascheln der Blätter, das Summen der Insekten zu hören war.
Auch wenn sie auf die achtzig zuging, war sie noch gut zu Fuß. Sie überquerte den Platz, wo ein Weg in den Wald hineinführte. Doch schon bald lockte sie das Abseits, der unebene Waldboden, wo Wald-Veilchen ihren lilafarbenen Blütenteppich vor ihr ausbreiteten. Von den Wildkirschen wehten weiße Blüten. Langhornmotten umtänzelten in Scharen das neue Grün. Ihre Flügel glänzten golden in der Abendsonne. Maria atmete tief die Frühlings-Waldluft ein. Sie roch nicht ordinär nach Bratwürsten, nicht süßlich schwer nach Rosen, sondern würzig und etwas bitter, wie der Kampf des neuen Lebens.

Hinter einen Baumstamm schimmerte etwas Gelbes. Neugierig trat sie näher und erkannte ein etwa achtjähriges Mädchen, das versunken einem Rotkehlchen lauschte, das auf dem Stamm sein Lied trällerte. Sie stellte sich neben das Kind, als sie spürte, wie sich eine kleine Hand in die ihre legte.
„Du trägst aber ein schönes Kleid“, sagte Maria bewundernd.
„Gefällt es dir?“ Kokett drehte sich das Kind im Kreis. Ein weißer Pettycoat lugte unter dem zitronengelben Kleid hervor.
„So einen hatte ich auch mal. Ich wusste gar nicht, dass das wieder modern ist“, sagte Maria. Das Kind schaute sie verständnislos an.
„Ich bin die Mia und du?“
„Ich heiße Maria. Was machst du hier im Wald? Sind deine Eltern bei dem Fest? Vermissen sie dich nicht?“ Das Kind legte den Kopf schief.
„Ich glaube nicht, dass sie mich vermissen. Sie sind beschäftigt. Komm, Maria, ich zeige dir, was ich entdeckt habe.“
Das Kind zog sie tiefer in den Wald hinein. Vor einer Lärche blieb sie stehen und schaute die Äste hinauf. Maria folgte ihrem Blick, bis sie ein Nest entdeckte.
„Das gehört einem Eichelhäher“, verkündete Mia stolz.
„Woher weißt du das?“, wollte Maria verwundert wissen.
„Ich habe gesehen, wie er das Nest verlassen hat. Ich glaube, es ist noch nicht ganz fertig. Aber ich kann dir noch etwas anderes zeigen.“
Maria ließ sich von dem Kind leiten. Seine Hände wärmten die ihren.
„Weißt du schon, was du mal werden willst?“, fragte sie das fremde Mädchen. Mia nickte.
„Ich werde Tierärztin und heirate einen Förster. Dann kann ich jeden Tag in den Wald gehen, und wenn die Tiere krank sind, dann helfe ich ihnen.“
Maria schaute in die Augen des Kindes, die vor Begeisterung leuchteten. Woher kamen sie ihr bekannt vor? Sie dachte an das alte Fotoalbum, in das sie schon seit Jahren keinen Blick mehr geworfen hatte. Mia glich aufs Haar genau ihr selbst, als sie acht Jahre alt war. Hatte sie nicht genau die gleichen Wünsche gehabt? Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie hielt die Hand des Kindes fest, um sich zu überzeugen, dass sie keiner Sinnestäuschung erlegen war. Mia spürte den Händedruck und wandte sich um.
„Versprich mir, dass du für deine Träume kämpfst!“, sagte sie zu dem Kind.
„Was ich nicht getan habe“, fügte sie tonlos hinzu.
Mia schaute sie verständnislos an. Dann befreite sie sich aus Marias Hand und lief davon. Maria versuchte Schritt zu halten, aber der Abstand zwischen ihr und dem Kind vergrößerte sich zusehends. Sie rief ihren Namen. Mia drehte sich nicht mehr um.

Schließlich ließ sich Maria erschöpft auf den Waldboden sinken. Die Sonne ging unter und wurde durch die Mondsichel abgelöst. Was wäre so schlimm, wenn ich hier für immer einschlafen könnte, dachte Maria und schloss die Augen.
Ein Trommeln und Pfeifen weckte sie. Der Boden unter ihr begann zu beben. Eine Schar von tanzenden Frauen näherte sich. Sie trugen alle weite, türkisfarbene Röcke, auf denen sich schwarze Schlangen schlängelten.
„Komm, steh auf Alte!“, forderte sie eine auf und reichte ihr die Hand. Erstaunt nahm Maria wahr, dass die Frauen alle ein altes Gesicht hatten, dennoch tanzten sie grazil und ausgelassen wie Junge. Sie ließ sich mitziehen und wirbelte mit ihnen um die Baumstämme herum, so dass es ihr eine Lust war.
Nach einer Weile erreichten sie eine Lichtung, wo ein offenes Feuer loderte. Eine Tänzerin nach der anderen nahm Anlauf und sprang darüber. Die Flammen griffen gierig nach den Röcken, doch die Frauen waren schneller. Maria stand in der Reihe und wartete, als eine Frau sie am Ärmel zupfte.
„Du gehst jetzt besser, Alte. Das ist noch nichts für dich. Da hinten ist der Hauptweg“, sagte sie in eine Richtung zeigend. Maria zögerte. Das Feuer spie glühende Funken wie ein Vulkan. Der Mut verließ sie und sie machte sich auf den Rückweg.

Sie werden mich sicherlich vermisst haben, dachte Maria, während sie sich dem Festplatz näherte.
Herta stand noch immer neben Egon ins Gespräch vertieft.
„Na, hast du dir etwas die Beine vertreten?“, fragte sie an ihre Nachbarin gewandt.
„Ich habe die weise Frau wiedergetroffen, die mir einst als Kind begegnet ist“, sagte Maria.
„Das muss ich jetzt nicht verstehen, oder?“ zwinkerte ihr Herta zu.
Maria schüttelte den Kopf. Sie schaute auf die glühende Asche des Grills, von der angenehme Wärme aufstieg.

Letzte Aktualisierung: 16.05.2016 - 23.41 Uhr
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