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Der verzauberte Wald | Mai 2016

Mundo
von Marcel Porta

Am besten stelle ich mich erst mal vor und berichte, woher ich stamme. Ich vermute, ihr habt noch nie etwas von Mundo gehört.
Jeder Bewohner unserer Insel beherbergt die Reinkarnationen eines Menschen, der einmal auf der Welt gelebt hat. So sind wir selbstständig denkende und handelnde Wesen und zugleich Gefäß für einen anderen. Jeder Einwohner hat somit in seinem Kopf zwei Repräsentationen: sich selbst und seinen Gast.
Ich selbst heiße Albert&Albert und soweit ich weiß, bin ich die einzige Doppelreinkarnation auf Mundo.

Zusammen mit Pierre und Marie hatte ich herausgefunden, dass die Welt durch eine katastrophale Implosion bedroht wird. Wir mussten Verbindung zur restlichen Welt aufnehmen, um sie zu warnen und Hilfe zu erbitten. Als Doppelreinkarnation war ich wohl der Einzige auf der Insel, der genügend Handlungsdrang entwickeln konnte und fähig war, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen.
Von alters her ging die Sage, hinter dem Zauberwald, der den Norden der Insel bedeckte und von allen Bewohnern gemieden wurde, befinde sich ein Hafen. Man könne ihn nur sehen, wenn man reinen Herzens sei. Zudem gebe es zwei Wächter, deren Frage man richtig zu beantworten habe, andernfalls man eines grauenvollen Todes sterben müsse.

Nun, ob ich reinen Herzens war, musste sich herausstellen, wenn ich dort war. Und die Fragen bereiteten mir vorerst auch keine Sorgen. Schwieriger stellte ich mir vor, den Zauberwald unbeschadet zu durchqueren.
Kaum hatte ich den düsteren Wald betreten, fühlte ich mich unwohl und mich fröstelte, obwohl es mitten im Sommer war.
Plötzlich riss mich ein bedrohliches Fauchen aus meinen grüblerischen Gedanken, und instinktiv wich ich zur Seite, als ein Schatten auf mich zukam. Schnell drehte ich mich um und starrte wie gelähmt auf die Kreatur, die eben nur knapp an mir vorbeigeschrammt war. Eine Chimäre, halb Hund, halb Haifisch, versuchte gerade, eine Kehrtwendung zu machen und erneut auf mich loszugehen. Sein überaus gefährlich aussehendes Maul, offensichtlich mit Haifischzähnen ausgestattet, war weit geöffnet, und es ertönte kein Bellen, sondern das seltsame Fauchen, das mich gerade eben erst vor dem Untier gerettet hatte. Sein Kopf ähnelte mit Ausnahme der Zähne dem eines Dobermanns, ebenso die vorderen Extremitäten. Zum Glück bestand der hintere Teil des Viehs aus einer Schwanzflosse, die einer schnellen Bewegung an Land abträglich zu sein schien.

Ohne die Kehrtwendung abzuwarten, nahm ich Reißaus und stürmte den Weg weiter, der vor mir lag. Das Haus, das ich durch die Bäume schimmern sah, schien mir Rettung zu bieten. Zum Glück war die Haustür unverschlossen, und so stürmte ich, ohne anzuklopfen in den dahinter liegenden Raum. Doch statt Rettung vor dem Ungeheuer bot dieser Raum neue Gefahren. Ein Heulen und Winseln, Kläffen und Röcheln umgab mich, die unwahrscheinlichsten Kreaturen tummelten sich in dem Zimmer. Zum Glück waren diejenigen, die am gefährlichsten aussahen, angekettet, und nur die harmloseren spazierten frei herum. Eine Mischung aus Bär und Adler war sogar in einem großen Käfig untergebracht, was das Tier nicht daran hinderte, zwischen den Gitterstäben hindurch mit seinen Pranken nach mir zu angeln.

„Die sind nicht so schlimm, wie sie aussehen, sind völlig harmlos.“
Erst jetzt bemerkte ich, dass ein alter grauhaariger Mann im selben Raum war. Er kam auf mich zu, wobei er seine Worte Lügen strafte, indem er einen gehörigen Abstand zu dem Käfig wahrte, und stellte sich vor: ‚Gestatten, Moreau - Dr. Moreau.’
Sofort machte es Klick in meinem Kopf und ich wusste, wo ich gelandet war. Es hatte immer wieder Gerüchte gegeben, dass auch literarische Reinkarnationen auf der Insel zuhause seien. Dies war eine von ihnen. Dieser verdammte Herbert Georg! Er hätte sich auch was anderes ausdenken können! Das hatte uns auf der Insel gerade noch gefehlt!
Nur unter Aufbietung all meines Charmes kam ich ungeschoren aus dem Haus und diesem Teil des Waldes.

„Halt! Stehen bleiben! Wer bist du und was willst du?“
Ein gehöriger Schreck fuhr mir in die Glieder, nachdem ich seit Tagen niemandem mehr begegnet war. Ich schaute mich um, wollte den Kerl ausfindig machen, der mich anblaffte, doch ich konnte niemanden sehen.
„Ha, er glaubt, er kann uns sehen. Hier sind wir, du Blindfuchs, hier!“
Das klang nicht unfreundlich, auch wenn der Sprecher sich über mich lustig zu machen schien. Allerdings hatte die Stimme in einem Punkt recht: Ich konnte immer noch niemanden sehen.
„Wer seid ihr?“
„Wir sind die Wächter des Hafens, Döskopp. Und damit du armes Würstchen nicht weiter so blind herumstehst, werden wir uns dir zeigen.“
Unwillkürlich zuckte ich zusammen, als unvermittelt neben mir zwei Gestalten aufragten, deren Köpfe an die Wolken zu stoßen schienen. Ich hatte mein Ziel erreicht, ohne zu wissen wie, und ohne es zu bemerken. Von einem Hafen konnte ich nichts erkennen, die Gegend kam mir nicht anders vor, als in all den Tagen zuvor.

Die beiden Wächter sahen Ehrfurcht gebietend aus, doch ihre Sprache wollte nicht recht dazu passen. Dass sie mich abwechselnd beschimpften, machte mich wütend.
„Ihr wollt die Wächter des Hafens sein? Zwei solche Witzbolde?“
„Ach komm, wir haben schon seit zweihundert Jahren niemand mehr zu Gesicht bekommen, und immer nur mit uns selber Spaß zu treiben, ist erzlangweilig.“
Die tiefe Stimme gluckste vor unterdrücktem Lachen.
„Ich muss in die Welt hinaus“, brachte ich die Sache auf den Punkt, „und wenn ihr die Wächter des Hafens seid, so bitte ich euch, mich einzulassen und mir ein Schiff zu geben.“
„Mann, du hast keinen Humor, und drängeln lassen wir uns schon gar nicht. Bevor du in den Hafen darfst, musst du eine Frage richtig beantworten. Schaffst du es nicht, bist du des Todes. Noch kannst du verschwinden und wir vergessen, dass wir dich gesehen haben.“

„Ich werde mich der Prüfung stellen“, erwiderte ich, ohne nachzudenken. Etwas anderes kam nach dieser langen und gefährlichen Reise nicht infrage.
„Gut gemacht“, versicherte mir der Wächter zu meiner Linken. „Wenn du dich anders entschieden hättest, wärst du jetzt bereits tot. War nur ein kleines Späßchen, das mit der freien Wahl, zu gehen oder auch nicht. Wer uns gesehen hat, darf eintreten oder muss sterben. Und nur, wem das Eintreten wirklich wichtig ist, hat überhaupt eine Chance.“
Die beiden Witzbolde wurden mir noch unheimlicher. Es war nicht zu spaßen mit ihnen, auch wenn sie immer wieder betonten, dass sie ein Faible für Witze hätten.
„Dann stellt eure Frage, ich bin bereit.“
„Du hast es aber verdammt eilig mit dem Sterben, Menschlein. Noch nie hat jemand die Frage richtig beantwortet. Den letzten mussten wir häuten und vierteilen. Oder war es umgekehrt? Verflixt, ich hab’s vergessen.“
Wer auch immer diese Wächter eingesetzt hatte, er musste einen skurrilen Sinn für Humor haben.
„Nein, den letzten haben wir aufgepustet, bis er geplatzt ist wie ein Luftballon. Weißt du nicht mehr, was für eine Sauerei das war?“, fiel ihm der zweite Wächter ins Wort. „Aber sei’s drum, du willst dein armseliges Leben ja unbedingt loswerden. Hier also die Frage: Kann ein Gedanke schneller sein als das Licht?“

Auf den ersten Blick war diese Frage unbeantwortbar. Ich musste Zeit gewinnen.
„Wie lange darf ich überlegen, bevor ich antworte?“
„Solange du willst, oder so lange, bis wir die Geduld verlieren. Wer weiß das schon?“
Na prima, mit dieser Antwort konnte ich hervorragend leben.
Wenn es etwas auf der Welt gab, das ich besser konnte, als fast alle anderen Bewohner von Mundo, dann war es nachdenken. Also setzte ich mich im Schneidersitz auf den Boden, schaltete alle Störquellen mental aus und vertiefte mich in das Problem. Wie lange ich nachdachte, bis ich endlich zu einer Antwort kam, weiß ich nicht. Es können Minuten, Stunden oder Tage gewesen sein. Jegliches Zeitgefühl kommt mir bei diesen Überlegungen abhanden.

„Ich habe eine Antwort gefunden“, wandte ich mich an die beiden Riesengestalten. „Entweder ich sterbe hier und jetzt, oder ihr lasst mich in den Hafen und gebt mir ein Schiff. Oder ist das auch nur ein Witz von euch?“
„Nein, du kannst uns vertrauen. Immerhin geht es jetzt um unsere Daseinsberechtigung. Und sowieso sind wir die ernsthaftesten Wächter, die es geben kann.“
Na, das waren schöne Aussichten. Meine beiden Reinkarnationen hatten all ihr Wissen zusammengelegt. Der eine Albert hatte zu bedenken gegeben, dass Gedanken Nervenströme im Gehirn sind, also an Materie gebunden und insofern langsamer als das Licht. Der andere hatte dagegen angeführt, dass Gedanken Lichtjahre in Sekunden überbrücken können, also schneller als das Licht seien. Nach reiflicher Überlegung hatten sie eine Antwort zurechtgezimmert.

„Der Satz: Ein Gedanke ist schneller als das Licht, ist im Allgemeinen relativ wahr und im Speziellen relativ falsch.“
Unwillkürlich zog ich den Kopf ein, denn der Hasenfuß in mir wartete darauf, dass sie mir selbigen abrissen. Doch eine gefühlte Ewigkeit lang passierte gar nichts.
„Verdammt, wie bist du darauf gekommen? Die Antwort ist derart hirnrissig, dass niemand sie finden kann, außer demjenigen, der sich die Frage und die Antwort ausgedacht hat. Bist du etwa Albert&Albert?“
Jetzt war es an mir, zu staunen. Wie und wann sollte ich ...? Mein Gehirn raste. Gedankenfetzen wie Zeitreise, Zeitschleife, zeitdillatierte Reinkarnation, pränatale Zeitparalaxe kamen mir in den Sinn. Doch es blieb mir keine Muße, dieses Rätsel zu lösen. Denn als ich die Frage bejahte, wetteiferten die beiden Wächter darum, mich unverzüglich in den plötzlich sichtbar vor mir liegenden Hafen zu geleiten und mir die Navigation des einzigen darin liegenden Schiffs zu erläutern.
„Es gibt zwei Methoden, dieses Schiff anzutreiben. Entweder man erzählt eine Geschichte, und je besser das Schiff sie findet, desto schneller ist man unterwegs. Oder man füttert es mit mathematischen Formeln. Je eleganter, desto höher die Geschwindigkeit.“

Auf also! Die Rettung der Welt ließ keine Muße zu.

Letzte Aktualisierung: 23.05.2016 - 07.27 Uhr
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