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Der verzauberte Wald | Mai 2016

Lagerfeuer am Himmel
von Andreas Schmeling

Das Lagerfeuer prasselte und knackte. Wohlige Wärme und ein angenehmer Duft von Tannennadeln erfüllte die laue Sommerluft. Der milde Abendwind strich vom Meer her über die Steilküste. Aldur saß allein am Feuer und starrte in die Flammen. Hinter sich spürte er den unheimlichen Wald, aber vor ihm breitete sich das unendliche Meer aus. Der Anblick der Wellen, der Geruch von Salz und Tang weckte eine alte Sehnsucht tief in ihm. Wie so oft fragte Aldur sich, wie die Dinge wirklich waren. Woher kam er, wohin ging er? Aldur war inzwischen ein alter Mann, der in seinem Leben viel erlebt hatte. Als junger Mann segelte er an Bord der Entdecker-Schiffe weit entlang der Küsten. Auf diesen Raubzügen sah er viele fremde Strände und Dörfer, erlebte wundersame Dinge und auch viel Leid.

Nun, viele Reisen und Raubzüge später, betrachtete Aldur das Feuer und dachte über sein Leben nach. Die Sterne über ihm erinnerten an die Lagerfeuer, die sie sahen, wenn sich ihre Boote des Nachts einer feindlichen Ansiedlung näherten. Es war eine Erinnerung an die Anspannung vor dem Kampf, an die Gefahr aber auch an den Sieg. Ein besonders heller Stern, der am Nachthimmel bläulich glitzerte, rief ihm den glücklichen Moment der Heimkehr ins Gedächtnis, als sie damals von einer langen und gefährlichen Seereise zurückkehrten. Die wohlige Wärme der heimischen Lagerfeuer nach all den kalten Schrecknissen auf der eisigen Insel würde er immer in Erinnerung behalten.

Was wäre, dachte Aldur, wenn all die Sterne, die im Jahreslauf auf- und untergingen, tatsächlich fremde Orte und ferne Lagerfeuer wären? Orte, an die man nicht mit einem Segelschiff übers Wasser gelangte, sondern nur mit einem Schiff, das weit hinter die Wolken fliegen konnte.
Waren es Menschen, die dort um die fernen Lagerfeuer saßen oder waren es andere, fremdartige Lebewesen? Saßen dort Zwerge als Diener von Rödul, der Sonne oder Artali, dem Mond? Versunken in seine Gedanken legte Aldur einen Holzscheit ins Feuer, als dieser plötzlich verschwand.

Weit, weit davon entfernt, entstand ein Holzscheit aus dem Nichts. Der Zwerg Kleinfinger nahm ihn als Fackel in die Hand. Was für einen schönen Stock hatte er gerade im Lagerfeuer gefunden: So gerade gewachsen und handlich. Jetzt war er gerüstet für seinen Weg durch die Dunkelheit. Das Kettenhemd des Zwerges klirrte, als er aufstand. In einiger Entfernung sah er von hier oben den blauen Planeten, der durch die endlose Schwärze des Alls unterwegs war. Links davon sah Kleinfinger den kalten und zerfurchten Gesteinsblock, der die Erde umrundete.
„Kommst Du endlich?“, hörte der Zwerg Kleinfinger eine fragende Stimme hinter sich. „Es geht wieder los, da unten hat uns gerade jemand erdacht.“
„Ja, ich spüre es“, entgegnete Kleinfinger mehr zu sich selbst. „Endlich geht es wieder weiter“.

Neben Kleinfinger trotteten noch sechs weitere Zwerge über den nachtschwarzen Himmel. Nach einiger Zeit der Wanderung drehte sich Kleinfinger um und sah in der Ferne das Lagerfeuer, von dem aus sie aufgebrochen waren. Von hier aus sah der Lichtpunkt genauso aus wie einer der vielen Sterne am Firmament. Wie so oft fragte er sich, wie die Dinge wirklich waren. Woher kam er, wohin ging er letztendlich? Was waren das für Leuchtpunkte dort in der fernen Weite des Universums. Waren es Lagerfeuer so wie das, welches er gerade verlassen hatte oder was fand sich dort? Gab es dort fremde Lebewesen, die sich an den Feuern wärmten? Er wusste es nicht und würde es wohl auch nie erfahren, denn die anderen Leuchtpunkte waren viel zu weit entfernt. Er wusste nur, was ihn auf der Erde erwartete, deshalb machte er sich mit seinen Zwergenkumpanen weiter auf den Weg in Richtung blauer Planet. Immer wenn ein Mensch dort Zwerge an himmlischen Lagerfeuern erdachte, konnten er und seine Reisegefährten sich voran bewegen. Egal, ob die Menschen auf der Erde von ihnen träumten oder sich Geschichten über die Zwerge am Himmel erzählten, es machte sie lebendig. Erst wenn niemand mehr sie in seinem Kopf erschuf, erstarrten die zwergischen Wanderer im weitläufigen Nichts zwischen hier und dem blauen Planeten.

Entsprechend eilig hatten es die Zwerge jetzt, denn sie wussten nie, wann die Gedanken an sie endeten. Manchmal konnten sie stundenlang wandern und manchmal war ihre Reise bereits nach wenigen Schritten beendet.

In den letzten Jahren waren sie dem blauen Planeten jedenfalls ein ganzes Stück nähergekommen. Nun konnten sie sogar schon Einzelheiten auf der Oberfläche erkennen: Hier eine Küstenlinie, dort einen See oder ein riesiges, eisbedecktes Gebirge.

Einer hinter dem anderen stiefelten die Zwerge der Erde entgegen. Sie freuten sich, dass jemand so lange an sie dachte, weshalb sie dem Planeten heute eine gutes Stück näherkamen. Plötzlich erstarrten sie mitten im Gehen, denn der alte Mann Aldur war an seinem Lagerfeuer eingeschlafen. Falls er träumte, träumte er jedenfalls nicht von ihnen. Kurz darauf ging die Reise zum Glück weiter. Ein kleines Mädchen aus Island war Mitten in der Nacht aufgewacht und betrachtete die Sterne. Oh, was für schöne Zwergenlagerfeuer, dachte sie gerade.

Auch Aldur wachte aus seinem kurzen Schlaf auf. Nun erschufen schon zwei Menschen die Zwerge durch ihre Gedanken. Umso schneller kamen sie voran. Bald waren die Zwerge so nah an der Erdoberfläche, dass sie den Sprung wagen konnten. Der Zwerg Kleinfinger und seine Reisegenossen hielten sich an ihren Fackeln fest, die sie wie Schirme über sich hielten. Jetzt sprang einer nach dem anderen nach unten. Die Fahrt wurde immer schneller, während sie an ihren Fackelschirmen der Erde entgegenrasten.

Nach einem harten Aufprall landeten alle Zwerge auf einer Lichtung im dunklen Wald nicht weit von Aldurs Lagerfeuer an der Küste entfernt. Irrlichter zeigten den Zwergen den Weg und mit rasselnden Kettenhemden verschwanden sie schnell zwischen den Bäumen.

Kurz davor hatte Aldur noch in die Flammen des Feuers gestarrt. Nun erhob er sich müde und blickte in den dunklen Nachthimmel. Plötzlich sah er zwei, drei, vier, sieben Sternschnuppen auf ihrem Weg zur Erde. Aus so großer Nähe hatte Aldur noch nie die fliegenden Nachtlichter gesehen. Er sandte ihnen einen Wunsch hinterher, den er schon lange hegte.


Wenn ihr in lauen Sommernächten eine Sternschuppe seht, denkt daran, dass es Zwerge sind, die an brennenden Fackeln zur Erde reisen. Träumt ab und zu von ihnen und erschafft ihnen damit den Weg zu uns. Und sucht vorsichtig nach ihnen, durchstreift die dunklen Wälder und die eisigen Gebirge. Denn kein Mensch weiß genau, wohin die Zwerge verschwinden, wenn sie auf der Erde gelandet sind.

Letzte Aktualisierung: 25.05.2016 - 23.49 Uhr
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