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Der verzauberte Wald | Mai 2016

Des einen Freud, des anderen Leid
von Nils Dürr

Er war ein Einhorn. Mit kräftigen Schritten galoppierte er durch den Wald. Die Sehnen und Muskeln seiner Beine spannten und entspannten sich im Rhythmus seiner Bewegungen. Seine Nüstern blähten sich, doch er fühlte keine Anstrengung. Es war ein Genuss. Seine Mähne kräuselte sich in einer sanften Brise. Ein solches Hochgefühl hatte er noch nie erlebt. Und erst diese intensiven Farben. Nie zuvor waren sie so stark gewesen. Nie zuvor hatte er so viele verschiedene Farbnuancen wahrgenommen.

Mit einem mächtigen Satz sprang er über einen kleinen Bach. Aufgeschreckt flatterten einige kleine Vögel auf, die er durch seinen unerwarteten Sprung auf die andere Seite des Baches, aufgeschreckt hatte. Jetzt bemerkte er auch die wärmenden Strahlen der Sonne durch das etwas lichter werdende Blätterdach. Hier im Wald war er der Herrscher. Dies war sein Wald. Hier konnte er tun und lassen, was er wollte.

Nicht weil er müde wurde, sondern weil er einfach den Frieden und die Intensität dieser Szenerie genießen wollte, schritt er gemächlicher aus. Ein Eichhörnchen kreuzte seinen Weg. Irgendwo klopfte ein Specht. Die Vögel sangen ihre Lieder. Er erreichte eine Lichtung. Fasziniert,von den verschiedenen Eindrücken, betrat er sie. Es kam ihm vor, als ob er jeden Grashalm mit einer Klarheit und Schärfe erkennen würde, die für normale Wesen unmöglich war. Er war etwas Besonderes. Ihn gab es nur einmal. Er war einzigartig.

Hier auf der Wiese der Lichtung war der Duft des Waldes besonders einladend. Es roch nach Gras und Tannenzapfen, irgendwo lag ein Hauch von Flieder in der Luft und er witterte auch Erdbeeren.

Er lief zu einem kleinen Bach, der in der Nähe vor sich hin plätscherte. Als er sich zum Trinken über seine Oberfläche beugte, bemerkte er, wie ihn jemand ansah. Aus dem Bächlein heraus blickte ihn ein Augenpaar an. Es war eine Frau. Irgendwoher kannte er sie. Aber wo hatte er sie nur schon gesehen?

"Sie wachen, wenn ich mit dem Finger schnippe, wieder auf!" Nein, das wollte er nicht. Jetzt erinnerte er sich wieder. Nein, er wollte hier in seinem friedlichen Wald bleiben. Die Realität in ihrer Welt wollte er nicht mehr spüren. Warum war sie nur immer so grausam und zwang ihn immer wieder zurück. Sie nannte es "das wirkliche Leben", aber für ihn war es nur eine leere, öde Welt, ohne jegliche Freude.

Mit einem lauten Ruf sprang er auf und galoppierte davon. Diesmal würde es ihr nicht gelingen ihn zurückzuholen. Nur deshalb hatte er sich überhaupt zu noch einer Sitzung mit ihr überreden lassen. Wild hämmerte sein Herz, als er über Büsche sprang und weglief. Vor IHR weglief. Kleine Zweige peitschten seinen Körper, als er vorbeilief. Er wollte weg. Einfach nur weit weg von ihr.

Mitten im Sprung über einen umgestürzten Baum hörte er es. Ein schnippendes Geräusch. Wie durch einen Tunnel fühlte er sich rasen. Die leuchtenden Farben um ihn herum verblassten. Immer schneller raste er auf ein unangenehmes, grelles Licht zu. Nein. Nein. Nein. Er wollte das nicht. Er kniff die Augen zusammen.

Als er die Augen öffnete, war er kein Einhorn mehr. Er fühlte sich niedergeschlagen. Wieso konnte er nicht in seiner Zuflucht bleiben? Das Licht war unangenehm. Es schien fast so, als ob man in einem schwarz-weiß Film sei. Er hatte Kopfschmerzen. Und Durst. Schrecklichen Durst verspürte er. Vor ihm stand ein Glas Wasser. In großen Schlucken trank er gierig davon. Es schmeckte schal. So wie alles in seinem Leben schal war.

"Hallo Herr Harm, wie geht es ihnen?" Das wollte sie immer wissen. "Schlecht", krächzte er. "Ich habe doch schon mehrfach gesagt, dass ich nicht in die Realität zurückgeholt werden möchte!" Die Frau ihm gegenüber war Mitte dreißig, hatte die Haare streng nach hinten frisiert und blickte ihn durch ihre Brille an. "Aber Herr Harm, wir hatten doch von Anfang an gesagt, dass ihre Therapie nur Sinn macht, wenn ich sie nach Einnahme des LSD auch wieder in die Realität zurückhole. Ich verliere meine Zulassung als Psychotherapeutin, wenn ich das nicht mache. Leider hat die Therapie ja offenkundig bei ihnen nicht angeschlagen. Wir haben jetzt fünf Sitzungen hinter uns gebracht. Ich denke, wir müssen es erneut mit klassischer Therapie versuchen. Es sei denn... ."

Unsicher fuhr Peter Harm nach Hause. Der kleine Zettel mit einer Adresse und einem Namen, den ihm seine Therapeutin Sylvia Rausch gegeben hatte, wurde von ihm nervös immer wieder aufgefaltet, gelesen und dann wieder sorgfältig zusammengefaltet. Aber wollte er tun, was sie ihm vorgeschlagen hatte. Er brauchte Zeit zum nachdenken.

Drei Tage später war sich Peter sicher. Er wollte zu dieser Adresse fahren. Die Verzweiflung über seine Unfähigkeit irgendetwas zu spüren war einfach zu groß. Schon mehrere Versuche seine Depression zu behandeln waren fehlgeschlagen. Dinge, die ihm früher Freude bereitet hatten, waren jetzt grau und unwichtig. Beziehungen waren in die Brüche gegangen, weil er aus Angst vor dem Verlust immer geklammert hatte, obwohl es keinen Grund dafür gab. Einen Selbstwert konnte Peter schon lange nicht mehr erkennen.

Endlich war er da. Die Adresse auf dem Zettel hatte ihn zum Hintereingang eines alten Hauses in der Nähe des Bahnhofs gebracht. Eine ganze Weile stand Peter unschlüssig vor der Tür. Schließlich drückte er doch den dritten Klingelknopf von oben.

Wieder zuhause dachte er kurz darüber nach wie einfach das gewesen war. Ein Typ in Schalketrainingsanzug hatte ihm geöffnet und barsch gefragt, was er denn wolle. Als Peter ihm Sylvia Rauschs Namen genannt und 100 Euro gegeben hatte, bekam er, wonach es ihn verlangte.

Als sich die Wände seiner Wohnung bereits aufzulösen begannen und er kurz davor war sich in das Einhorn zu verwandeln, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, ob es ohne therapeutische Überwachung klug gewesen war die gesamte Dosis LSD zu nehmen. Aber der Gedanke verschwand, als er sich wieder in seinem Wald befand. Dieses Gefühl des muskulösen Körpers war wie immer berauschend. Die Farben und Geräusche verspürte er mit allen Sinnen. Er war wie verzaubert.

Da, was war das für ein strahlendes, wunderbar glänzendes Licht? Er galoppierte auf das Licht zu. Freude und auch ein wenig Unruhe erfüllten ihn als er dem Licht immer näher kam. Sein ganzer Sinn verlangte danach in das Licht zu gehen. Es war unbeschreiblich. Eine Flut von Eindrücken, Erinnerungen und Gefühlen traf ihn. Er FÜHLTE etwas. Jetzt war er endlich glücklich und zufrieden.


N. Dürr

Letzte Aktualisierung: 26.05.2016 - 23.03 Uhr
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