Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Spott und Hohn | Juni 2016
Nur noch zwanzig Prozent
von Sabine Esser

In dem gepflegten Park eines ehemaligen Herrenhauses sitzt ein uralter, unrasierter Mann auf einer Bank in der Nachmittagssonne und starrt ins Leere. Unablässig stöhnt er leise vor sich hin: „Was habe ich getan …“. Spuckefäden tropfen auf seine schmuddelige Hose.

Ein ebenso alter, aber viel vitalerer Herr in leichtem Sommeranzug, maßgefertigten Schuhen und exquisiter Ledermappe unterm Arm spricht ihn an: „Du weißt doch gar nicht, was du gestern getan hast. Du bist ja nicht mal richtig angezogen.“

„Natürlich weiß ich, was ich getan habe. Das quält mich doch so“, greint der Alte.

Der Elegante setzt sich mit großem Abstand zu ihm, legt die Tasche ab und streicht selbstgefällig über seinen gepflegten Oberlippenbart: „Gut Theo, dann sag‘ mir, was du gestern gemacht hast.“
„Was ist Gestern“, rätselt der Alte. „Das Wort kenne ich nicht.“
„Gestern hast du genau so hier herumgesessen wie heute auch. Du hast keinen Elan mehr. Damals …“
„Kennen wir uns denn?“, reißt Theo mühsam die entzündeten und verklebten Augen auf.
„Du erkennst mich tatsächlich nicht? Deinen guten Freund Lutz Morgenstern? Du hast unseren Laden zwar gegründet, aber ohne meine Unterstützung hättest du den Betrieb doch gar nicht führen können!“
Theo horcht den Worten hinterher: „Was für ein Laden? Was für ein Betrieb?“

Lutz Morgenstern springt abrupt auf und zischt so heftig, dass Spucketröpfchen das Gesicht des Alten besprühen:
„Was ist bloß aus dir geworden! Ein sabbernder, dreckiger Haufen Elend. Aber mich rausschmeißen! Alles lief doch bestens, es gab gar keinen Grund, mir zu kündigen! Aber du, du glaubst ja immer, alles besser zu wissen. Guck‘ dich doch mal an, dann siehst du, wo du mit deinen Ideen gelandet bist! Auf Spenden bist du angewiesen, damit du hier überhaupt leben darfst!“

Plötzlich überaus freundlich nimmt der Bärtige wieder Platz, achtet sorgsam darauf, dass sein Jacket sich nicht beult beim Niedersetzen, reibt die Hände mit den manikürten Nägeln und säuselt liebenswürdig:
„Weißt du Theo, zu Anfang warst du ja richtig gut. Das muss ich dir schon zugestehen. Ein richtiger Workaholic. Und alles in nur einer Woche! Die Idee, den ganzen Ablauf über getaktete Beleuchtung zu regeln, war grandios. Der Rest ging von allein, die Pflanzen wuchsen, wir hatten Nahrung genug für die Viecher. Alles bestens. Was habe ich dich bewundert! Aber dann musstest du ja unbedingt rumexperimentieren.“
Seine Stimme schwillt an:
„Ich habe dich gewarnt, mehrfach. Aber Kritik konntest du ja noch nie vertragen! Immer sollte man dich, und zwar nur dich allein, bewundern! Was sagtest du damals doch gleich? Ich solle mein eigenes Ding machen, wenn ich mit deinen Plänen nicht einverstanden sei. Genau das habe ich gemacht! Und mit Erfolg, wenn du es genau wissen willst. Ich habe die größten Marktanteile weltweit. Die Wachstumsraten sind enorm, besonders in den letzten Jahrzehnten geht’s sprunghaft nach oben.“

„Was habe ich getan…“, greint der Alte und versucht mit bloßen Fingern, den Tränenkleister aus den Augen zu reiben. Lutz Morgenstern reicht ihm angewidert ein sorgfältig gestärktes Taschentuch und öffnet seine Ledermappe.

„Da musst du unterschreiben“, drückt er dem Alten einen eleganten Stift in die Hand.
„Ich kenne Sie doch gar nicht“, weigert der sich bockig. „Ich kann doch nicht irgendetwas unterschreiben. Und wofür überhaupt?“

Lutz Morgenstern lächelt sanft: „Vergessenheit – ist das nichts? Ich werde deine Fehler korrigieren, und niemand wird mehr von dir sprechen oder sich an dich erinnern! Deine Unterschrift ist sowieso nur pro forma. Ich könnte deinen Laden auch ganz einfach pleitegehen lassen. Das dauert etwas länger, ändert aber nichts.“

Theo holt tief Luft und dröhnt auf gut Glück den bewährten Satz: „Ich sehe und weiß alles“ und ergänzt drohend: „Sogar, was Sie treiben, Herr Morgenstern.“

Langsam, sehr langsam mustert dieser ihn von oben bis unten und antwortet gefährlich ruhig:
„Ah ja? Und was treibe ich? Du weißt doch gar nichts! Nicht mal, was du gestern gemacht hast! Dein Pech, für mich gibt ein Gestern. Für dich nicht. Die Zukunft hätte uns beiden gehören können, aber so …“

Er läßt den Satz verklingen und fährt vertraulich fort:
„Du vergisst, dass ich Dein Freund bin. Vielleicht könntest du als geschäftsführender Vorstand den Bereich Ichthyologie übernehmen oder Astronomie, eventuell sogar Botanik, Ornithologie wäre auch denkbar. Das würde ich dir freistellen. Was hältst du davon, altes Haus?“
„Mein Lieblingsforschungsgebiet waren immer die Säugetiere“, wirft Theo, plötzlich hellwach, ein.
„Die kann ich dir überhaupt nicht überlassen. Die hast du damals an mich verloren. Das ist mein größtes Kapital. Du wolltest doch unbedingt das Experiment mit dem Mann als deinem Ebenbild. Ich habe dich gewarnt!“
„Ich kann gar nichts verloren haben. Ich war immer nur in der Forschung!“, begehrt der Alte auf.
„In der Forschung“, äfft ihn sein Gegner mit blitzenden Augen nach.
„Dass ich nicht lache! Im Gegenteil. Du hast jedes Projekt ohne jede Überlegung umgesetzt und gingst weiter und weiter. Zu weit eben. Na los, unterschreib‘ endlich.“
„Nein, ich unterschreibe gar nichts. Das habe ich nicht nötig“, weigert sich der Alte unerwartet beharrlich.

Lutz Morgenstern lehnt sich kopfschüttelnd zurück: „Dann unterschreibst du eben nicht. Wie ich schon sagte, du verzögerst lediglich das Ende. Mir fehlen sowieso nur noch etwa zwanzig Prozent. Das ist leicht geschafft. Deine Leute arbeiten doch längst für mich, und zwar richtig gut in letzter Zeit.“

„Meine Leute, wie Sie sie nennen, sind loyal“, begehrt der Alte auf.
„Ach Theo, du bist so naiv! Ich habe ihnen viel mehr geboten als du, und seitdem - und zwar vom ersten Tage an - seitdem arbeiten sie für mich. Dir haben sie Verwaltungsvorgänge vorlegt, mir Innovationen! Ich habe sie in ihrer Kreativität nie behindert. Im Gegenteil. Alles erlaube ich ihnen. Alles, wirklich alles! Und sie danken es mir, wie die Zahlen zeigen. Unterschreib‘ schon, dann bist du alle Sorgen los.“

Für einen kurzen Moment durchzuckt Erkennen die Augen des Alten, und er keucht wutentbrannt: „Natürlich. Du bist es. Wer sonst?“
Dann sinkt er in sein monotones „Was habe ich getan …“ zurück.
Lutz Morgenstern zupft sein Jacket gerade, hält das Gesicht in die späte Sonne und murmelt zufrieden: „Was für ein Idiot“.

Eine junge Pflegerin nähert sich und spricht sie freundlich an: „Meine Herren, wenn ich bitten darf: Zeit für ihre Tabletten. Sie können morgen weiterstreiten.“

Lüstern mustert Lutz die adrette Person und raunt Theo anzüglich zu: „Die Evas zumindest sind dir ganz appetitlich gelungen.“
„Nun mal halblang, Herr Morgenstern“, ermahnt die Pflegerin den allzu Vitalen. „Sie vergessen, wo Sie sich befinden.“
Der blinzelt amüsiert: „Als ob ich das nicht wüsste! Theo in meiner Irrenanstalt!“

Letzte Aktualisierung: 21.06.2016 - 07.25 Uhr
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