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Spott und Hohn | Juni 2016

Niemand ist gefeit
von Helga Rougui

Für E.B. (1926-1996)


- He? Hallo! Kein Säckchen für mich heute?

Der Postengel (Po-Stengel?? Post-Engel!?) – also gut - der Postbotenengel schwebt vorüber, ohne mich einer Antwort zu würdigen, dafür mit einem eigenartigen Zucken im Mundwinkel. Amüsiert er sich? Über mich? - das arme Schwein, das schon die vierte Woche hintereinander keine Post erhält?

Auch Engel können böse sein.

Ich weiß das, weil ich drin bin, in diesem Himmel, seit einer geraumen Weile schon. Hoch oben auf einer weißen Wolke sitzend verbringe ich die Zeit mit endlosem Hosiannasingen. (Und das mir, wo ich gar nicht singen kann.) Auf der Wolke neben mir lungert mein Ehemann und schnarcht, faul und unbotmäßig wie stets. Immerhin nett, daß sie unsere Wolken nebeneinander geparkt haben – ich meine, wir haben uns geliebt im Leben, also warum nicht auch im Tode?
Ich frage mich nur, was die Paare bewegt, die bis in alle Ewigkeit auf diese Art wolkenmäßig aneinandergekettet sind? Die vielleicht eine fröhliche Scheidung durchgezogen haben, um sich nach unbeschwerten Jahren der Freiheit voneinander nach ihrem Ableben dicht an dicht wiederzufinden, gleichsam vereint in einer sartreschen geschlossenen Gesellschaft?

Wie gesagt – der Himmel kann sehr böse sein. Und – wie es scheint – die Engel erst recht.

Mein Ehemann pupst und dreht sich auf die andere Seite. Ich flüstere lautstark:

- Hey Wolfischatz, wach auf! Weitersingen! Dein linker Fuß fängt an zu verschwimmen!

Die himmlische Existenz besteht – mal abgesehen vom mickerigen Engagement meines Göttergatten – aus harter Arbeit, zu erledigen in drei Acht-Stunden-Schichten. Da wir in unserem Zustand bedauerlicherweise nicht mehr schlafen müssen, bedeutet das für uns Hamsterradtage ohne Ende.
Das Prekäre ist, daß wir für unsere Dichtigkeit und damit für unser Weiterbestehen selber sorgen müssen – Gott schert sich auch nach unserem Tod nicht mehr als einen Scheißdreck um uns.

Unsere Dichtigkeit nährt sich aus zwei Quellen: einmal aus der Intensität und Pausenlosigkeit, mit denen wir unsere Hosiannagesänge absolvieren – wenn wir das nicht tun, fransen wir alsbald an den Rändern aus, unser kompaktes Weiß wird nach und nach durchsichtig, und am Ende sind wir so zerfasert, dass wir praktisch durch die Wolke, auf der wir sitzen, in die Atmosphäre rieseln – und wer sich einmal mit den Himmelsstürmen vermischt hat, ist in den Weiten des Orbits nicht mehr aufzufinden. (Könnte sein, daß sich dem, der mit dem ungeliebten Partner oben wieder zusammengesperrt wird, hier ein Ausweg auftut. Ich glaube, es gab mal eine, die ihren Mann durch unentwegtes Geplapper in einen solchen Dämmerzustand versetzte, daß er ganz und gar vergaß zu singen, bis er weniger und weniger wurde und schließlich auf die eben beschriebene Art verschwand. Ob sie das mit Absicht gemacht hat, ist ihr nicht nachzuweisen, jedenfalls war sie ihn auf diese Weise los. Im übrigen, so sagt man, sprach sie von da an bis ans Ende aller Zeiten kein einziges Wort mehr, mit niemandem.)

Auf die andere Quelle, aus der sich unsere Dichtigkeit speist, haben wir leider keinen Einfluß: das ist der Grad, wie häufig und wie intensiv unsere Hinterbliebenen an uns denken. Auch hier muß man unterscheiden: die, die uns lieben und uns wohlgesinnt sind, tragen durch ihre Gedanken zu unserer Dichtigkeit bei – wer viele solcher Erinnerer auf sich vereint, kann sich mit der Zeit granithart-reinweiß-perlmuttschimmernd präsentieren und wird allgemein bewundert und beneidet, denn selbstverständlich ist ein solcher Panzer nicht. Die Diesseitigen sind oft dermaßen beschäftigt, daß regelmäßige Gedanken an die Jenseitigen gar nicht in ihre vollgestopften Leben passen.

Leider gibt es aber auch das Gegenteil – wer an einen Verstorbenen mit bösen Gedanken denkt, wer den Haß bis über das Grab hinaus nährt, der bewirkt auch im Himmel für den Toten Ungutes. Die häßlichen Gedanken entziehen ihm nach und nach die Dichtigkeit – ein strahlendes opakes Weiß wird zum Dunstschleier – der Rest ist bekannt. Den prominenten Schurken, denen man dies gönnen möchte, passiert so etwas leider nie. Es gibt welche, die zwar mal phasenweise blasser werden, aber immer wieder kommt eine Schubkarre mit Säckchen voller Gedanken von den Unentwegten gerade für die Schlimmsten unter ihnen – und man fragt sich, wo Gott mit seinen Gedanken war, als er offensichtlich zerstreut diese Personen in den Himmel ließ. Verstehe unsereins die unerforschlichen Mäander des göttlichen Hirns ...

Zweimal in jeder Schicht kommen die Postbotenengel und verteilen die Gedankensäckchen – auch hier im Himmel wie überall herrscht Kontrolle über die Gedanken der Menschen – allzu extreme Liebesbezeugungen seien angeblich nicht gut für uns bzw. schlecht für die, die sie uns geschickt haben – diese verzweifelten Übriggebliebenen bekommen sie zurück mit der Auflage, sich zu mäßigen und angemessene, sympathische Erinnerungen zu gerieren. Darum haben die, die so besonders geliebt wurden, daß sie eigentlich keinen Ton mehr zu singen bräuchten, leider gar nichts von dieser übergroßen Zuneigung, die ihnen immer noch hinterhergetragen wird – selbst Michael Jackson, der es an sich gar nicht nötig hätte, hat sich die Tage wieder an sein Klavier gesetzt. Daß wir hier alle Harfe spielen, ist auch so ein Klischee derer, die noch nie hiergewesen sind – wer ein Instrument spielt, bekommt dieses und wer keins spielt, bekommt zumindest eine kleine Kindertrommel, auf der er sich den Takt klopfen kann.

Erneut schwebt der Postbotenengel vorüber, diesmal offen grinsend und mir seine leeren Handflächen vorweisend. Dürfen die das? Ich meine, auf solche Art grinsen?
Schlimmer aber ist, daß meine Post ausbleibt. Ich bin seit zwanzig Jahren tot (so ungefähr) und mußte mir bisher nie Sorgen machen. Wir erhielten bis vor kurzem mit schöner Regelmäßigkeit unsere Säckchen, in denen wohlsortiert die guten Gedanken saßen, um von uns absorbiert zu werden. Wir haben zwei Töchter, wir hatten ein gutes Verhältnis, und sie denken mit schöner Regelmäßgkeit an mich und auch an ihren Vater, so daß eine solide mittlere Dichtigkeit gewährleistet war und wir schon mal der ewigen Singerei durch ein Nickerchen hier und da entkommen konnten. (Ne, Wolfi?)
Aber – seit einem Monat kommen keine Säckchen mehr für uns.

Ich singe weiter, und mein Ehemann, noch schläfrig, stimmt ein, und wir tremolieren uns – ein Herz und eine Seele nach wie vor – in ein gepflegtes melancholisches Moll hinein – als plötzlich Petrus mit grimmiger Miene in unserem Blickfeld auftaucht, den Postbotenengel am rechten Ohr hinter sich herzerrend. Hinter den beiden schweben drei Packengel, die dreiunddreißig Schubkarren mit dreihundertdreiunddreißig Gedankensäckchen vor sich her schieben.

- Entschuldige dich, herrscht Petrus den Postbotenengel an, der jetzt nicht mehr grinst, entschuldige dich bei den beiden hier, daß du ihre Säckchen versteckt hast den ganzen letzten Monat lang.

Was? Ich öffne das zuoberst liegende Säckchen. Ein schöner, runder, wohlgenährter Gedanke purzelt mir entgegen:

ALLES GUTE ZUM GEBURTSTAG LIEBE MAMA
HEUTE WÄRST DU 90 JAHRE ALT GEWORDEN
WIR DENKEN AN DICH

Mein Ehemann schaut von seiner Wolke zu mir herüber. Er lächelt so erleichtert, wie ich mich fühle.

Alles ist gut.
Soweit es die Situation erlaubt.

Letzte Aktualisierung: 22.06.2016 - 18.19 Uhr
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