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Spott und Hohn | Juni 2016

In der Schwimmhalle
von Jochen Ruscheweyh

Der Kopf des Jungen hebt sich kaum aus dem Wasser.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er sich beim Einatmen am Chlorwasser verschluckt.

Am Beckenrand sitzen die Älteren, die Größeren, die mit den breiten Schultern und den kräftigen Oberschenkeln.
Die, denen es zu lange dauert, bis sie endlich ins Wasser können.
Die sich nicht vorher abduschen müssen, weil ihnen Kälte nichts ausmacht.
Und die die ersten sind, die hochgehen und ohne zu Zögern einen Kopfsprung machen, wenn jemand die Kette an der Leiter zum Drei-Meter-Brett wegnimmt.

Der Übungsleiter hat eine Trillerpfeife umhängen und dreht an einem Zauberwürfel, der fast an allen Seiten so aussieht wie das Steinmosaik an der Wand, an der auch die große Uhr hängt. Deren Sekundenzeiger ist rot und dicker als der schwarze Stunden- und Minutenzeiger.
Der rote Zeiger springt nicht von Sekunde zu Sekunde. Es sieht mehr aus als wenn er gleitet. So wie der Junge durch das Wasser, den kurzen Moment lang, bevor der nächste Zug mit den Armen den Beinschlag ablöst.

In immer kürzeren Abständen sieht der Junge zu der Uhr hinauf.
Das, was er gerade tut - sechzehn Bahnen Brustschwimmen – nennt der Übungsleiter Einschwimmen.
Spätestens nach der zehnten Bahn brennt es in seinen Lungen und meist wird ihm übel von der Anstrengung.
Er könnte langsamer schwimmen, aber dann würden ihn die anderen überholen.

In seiner Gruppe sind nur Mädchen.
Vier Mädchen, um es genau zu sagen.
Vier Mädchen, die an Land eher unsportlich wirken.
Zu klein, zu dick, zu o-beinig.
Ihre engen Gummibadekappen und Schwimmbrillen verwandeln ihre Köpfe in eine Mischung aus Roboter und Schaufensterpuppe.
Er trägt eine Stoffbademütze und eine Badehose in den Amerika-Farben mit Streifen und Sternen.

Sie sprechen kaum untereinander. Der Junge kann sich nicht daran erinnern, überhaupt schon einmal mit einer von ihnen gesprochen zu haben oder umgekehrt.

In der Bahn verliert er oft die Linie, gerade, wenn er Rücken schwimmen muss. Einmal ist er mit einer von ihnen, er glaubt, sie heißt Carola, zusammengestoßen.
Seitdem passt er auf.
Guckt noch öfter nach hinten und zur Seite, versucht, den Abstand konstant zu der Leine zu halten, die die Bahn an der Seite begrenzt und vom Rest des Beckens trennt. Auf die Leine sind Bojen gezogen. Rot-weiß und so dick wie eine Faust der Älteren. Dabei verliert er Zeit.

Eigentlich macht es ihm nichts aus, von Mädchen überholt zu werden, zumindest nicht mehr, als von Jungs, aber die sind ja nicht da.
Zumindest nicht in seiner Gruppe.
Er kann sich vorstellen, wie die Älteren am Beckenrand reagieren, wenn er von Mädchen überholt wird, dass sie lachen und mit dem Finger auf ihn zeigen.
Er erinnert sich zumindest daran, dass sie das getan haben, als er mit einem der Schwimmbretter aus Styropor zwischen die Beine geklemmt Brustschwimmzüge üben musste. Und er sich dabei vorgekommen ist wie Donald Duck, weil das Styropor-Brett seinen Po durch den Auftrieb nach oben gedrückt hat.
Deswegen schwimmt er weiter.
Auch weil seine Eltern wollen, dass er schwimmt.
Denn sie wollen, dass er in einem Verein ist.
Und nachdem er Turnen und Fußball probiert hat, und nicht mehr hingehen wollte, soll er jetzt zumindest zum Schwimmen gehen.

Der Übungsleiter hält den Zauberwürfel in der Hand, an dem er schon eine Weile gedreht hat. Trotzdem sieht der Würfel noch so durcheinander aus wie das Wandmosaik.
Einer der Älteren kommt und bietet dem Übungsleiter an, den Würfel fertig zu machen. Der Übungsleiter bläst kurz in seine Pfeife und kündigt acht Bahnen Rücken an, ehe er mit einem der Älteren in Richtung Bänke verschwindet.
Der Junge überlegt, dass es ungünstig wäre, wenn er jetzt ertrinken würde und wie sich das anfühlen könnte.

Bevor er zu Ende gedacht hat, ist er am Ende der Bahn angekommen.
Ohne Pause geht er in Rückenlage, damit der Abstand zu den Mädchen nicht zu groß wird.
Als er die Hälfte des Beckens durchschwommen hat, tritt ein Mann an den Beckenrand, den der Junge schon öfter hier gesehen hat und von dem er – nicht wie bei Carola – ziemlich genau weiß, dass dieser Schulze heißt.
Der Mann erinnert den Jungen an Strauß, der gestoppt werden soll, wie es auf den Plakaten steht. Warum das passieren soll, und was die CSU genau macht, weiß der Junge nicht, nur dass es irgendwie um die Wahl geht und dass sein Vater meint, dass Schmidt auch 1980 siegen würde. Der Junge überlegt, ob Schmidt und Strauß auch schwimmen können.
Der Mann beobachtet den Jungen einen Moment, ehe er ihn anfährt, ob das nicht schneller ginge.
Der Junge steigert das Tempo.
Verschätzt sich deswegen aber mit der Entfernung zur Beckenwand, kommt ungünstig an und muss einen Zwischenzug machen, um drehen zu können.
Der Mann ermahnt den Jungen lautstark, sauber zu wenden. Den Mädchen ruft er zu, bitte unter der Leine hindurchzutauchen und auf die Neben-Bahn auszuweichen. Dabei klingt er freundlich.
Die nächsten fünfzig Meter des Jungen geht der Mann am Beckenrand mit ab, schreit ihn dabei an, die Brust hochzunehmen und den Kopf nicht so weit anzuwinkeln.
Obwohl er es nicht sehen kann, weiß der Junge, spürt es, dass die Älteren ihn anstarren, über ihn reden und wahrscheinlich auch lachen.
Bei der nächsten Wende nimmt der Junge einen zu tiefen Luftzug, da er vollkommen außer Atem ist.
Dabei schluckt er Chlorwasser.
Er muss husten.
Der Mann brüllt ihn an, sich nicht so anzustellen, von etwas Wasser sei noch keiner gestorben.
Der Junge stößt sich ab.
Die Hallendecke über ihm mit den Strahlern erinnert ihn an eine Zahnarztpraxis. Er dreht den Kopf ein wenig zur Seite, um einschätzen zu können, wie weit es noch bis zum Beckenende ist.
Dabei sieht er, wie der Mann die Rettungsangel mit dem langen Metallstiel und der Schlinge aus festem Draht aus der Wandverankerung nimmt.
Der Junge guckt wieder zur Decke.

Er spürt den Schlag mit der Rettungsangel auf seinem Oberschenkel und hört den Mann schreien, dass ein vernünftiger Beinschlag anders aussehe.
Er soll ziehen.
Woraufhin er zieht.
Der Mann schlägt ihn wieder auf den Oberschenkel.
Er soll gleiten.
Woraufhin er gleitet.
Der Mann schlägt erneut zu.
Ziehen.

Noch eine Bahn.
Ziehen.
Schlag.
Gleiten.
Schlag.

Als der Junge am anderen Ende des Beckens bei den Startblöcken angekommen ist, sagt ihm der Mann, er solle aus dem Wasser kommen.
Der Mann hängt die Angel wieder an die Wand.
Ohne den Jungen anzusehen, teilt er ihm mit, dass er ganz gut Rücken könne und ob er nicht in der Mannschaft schwimmen wolle.
Der Junge schaut sich um.
Niemand lacht.
Niemand starrt ihn an.
Einer der Älteren läuft hinter einem anderen her. Dann bleiben sie stehen, reißen sich die Badekappen vom Kopf und schlagen damit nacheinander als würden sie Peitschen in der Hand halten.
Der Mann guckt den Jungen an.
Der Junge nickt.

Er setzt sich auf die Bank. Das Mädchen, von dem er meint, dass es noch nie mit ihm gesprochen hat, und von dem er annimmt, dass es Carola heißt, setzt sich neben ihn.
Sie sagt, dass sie jetzt reite und nicht mehr kommen werde.
Der Junge antwortet, dass das schade wäre.
Sie nickt.
Er sagt, dass er ab nächste Woche schwänzen und seine Eltern deswegen belügen werde.
Sie sagt, dass sie das stark fände.

Der Übungsleiter kommt zurück.
Sein Zauberwürfel sieht noch genauso durcheinander aus wie das Mosaik an der Wand.
Er setzt seine Trillerpfeife an und pfeift.
Sechzehn Bahnen Brust.

Letzte Aktualisierung: 28.06.2016 - 07.04 Uhr
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