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Spott und Hohn | Juni 2016

Der Schubkarren
von Marcel Porta

Die drei Apfelbäume im Garten, direkt hinter unserem Haus, trugen in diesem Jahr besonders gut. So konnten wir schon Anfang Juni die erste Fuhre Fallobst zum Pressen bringen, um sogenannten Lohnmost zu erhalten. Man bekommt Gutscheine, die man innerhalb des nächsten Jahres gegen Apfelsaft einlösen kann. Mit nur geringer Zuzahlung, denn man zahlt nur die Verarbeitungskosten. Ein mühseliges Geschäft, doch Gartenliebhabern, wie meiner Frau Elvira und mir, ist keine Arbeit zu viel.
Vier große Säcke bekamen wir zusammen und sie waren so schwer, dass ich beschloss, meinen Rücken zu schonen und sie mit dem Schubkarren zum Auto zu transportieren. Direkt anschließend fuhren wir zur Abgabestelle und ließen den Schubkarren vor unserem Haus, aber noch innerhalb der Umzäunung, stehen.
Als wir circa eine Stunde später zurückkehrten, war der Schubkarren verschwunden. Natürlich waren wir zunächst unsicher, ob wir ihn wirklich genau dort hatten stehen lassen, doch da er auf dem ganzen Gelände nicht aufzufinden war, stand irgendwann fest: Er war geklaut worden. Völlig unverständlich, denn es war ein uraltes Teil, das höchstens für einen Liebhaber historischer Werkzeuge und Gerätschaften von Wert sein konnte. Wir rätselten, wieso jemand das Risiko, entdeckt zu werden, wegen dieses Gerümpels auf sich genommen hatte.
„Vielleicht will er seine Uroma darin transportieren und hat unbedingt ein adäquates Transportmittel gebraucht.“ So und ähnlich witzelten wir im Laufe der nächsten Woche darüber, obwohl uns der Schubkarren bei der Gartenarbeit fast täglich fehlte.

Gerade hatten wir beschlossen, uns im Gartencenter einen neuen zu kaufen, da glaubte ich, meinen Augen nicht trauen zu dürfen. Er stand wieder da. An der gleichen Stelle. Morgens, als ich die Zeitung aus dem Briefkasten holen wollte, sah ich ihn. Als wäre er nie weggewesen.
„Rate mal, wer wieder da ist“, machte ich Elvira gegenüber ein Geheimnis aus der wundersamen Wiederkehr des Vermissten.
„Sag nicht, der Schubkarren!“, entfuhr es meiner ahnungsvollen Frau.
„Doch, er steht wieder da. Wird den Dieb gebissen haben, da hat er ihn wiedergebracht.“
„Das gibt’s doch gar nicht.“
Gemeinsam gingen wir nach draußen, um das Altertümchen in Augenschein zu nehmen. Erst in diesem Moment sah ich, dass im Schubkarren ein Brief lag. Ohne Anschrift lag er völlig unschuldig einfach nur da.
„Vielleicht hilft uns der zu verstehen, was es mit der seltsamen Wiederkehr auf sich hat“, sagte ich, als ich den Brief aufriss.
„Und, was steht drin?“
„Moment, ich lese es vor.“
„Na, da bin ich gespannt.“
„Liebe Schubkarrenbesitzer, sicher haben sie die Schubkarre sehr vermisst. Es tut uns unendlich leid, dass wir ihn ausleihen mussten. Dingende Arbeiten ließen uns keine Wahl, als er so herrenlos da herumstand und um Benutzung flehte. Nun sind die Arbeiten beendet und er hat uns beste Dienste geleistet. Doch wir sind keine Schmarotzer, weshalb wir gerne eine Leihgebühr entrichten. Die beiden Eintrittskarten für die Oper sollen Sie für die erlittene Unbequemlichkeit entschädigen. Viel Spaß bei der Liebe zu den drei Orangen. Und guten Appetit.“

Tatsächlich befanden sich zwei Eintrittskarten zu Prokofjews Oper im Umschlag und zudem ein Gutschein für einen Pausensnack.
„So was Verrücktes! Die Karten haben zusammen mehr als sechzig Euro gekostet. Dafür hätten die sich ja fast einen Schubkarren kaufen können“, meinte Elvira.
„Und der Pausensnack kommt noch dazu. Ob sich da Freunde von uns einen Spaß gemacht haben?“
„Könnte schon sein. Wer sonst sollte wissen, dass wir regelmäßig die Oper besuchen.“
„Gehen wir erst mal hin, ich denke, danach werden sich die Spender schon zu erkennen geben. Der Termin passt ja, nächsten Sonntagabend.“
„Prokofjew mag ich, da haben sie jedenfalls schon mal gut getroffen.“

Der Sonntag kam schnell, gegen siebzehn Uhr brachen wir auf, weil wir vorher noch ein wenig durch die Stadt flanieren wollten. Mit dem Auto zum Bahnhof und dann mit der S-Bahn weiter, das war schon Routine. Alle halbe Stunde fuhr ein Zug bis spät in die Nacht, da lohnte es nicht, mit dem Auto zu fahren, zumal die Kosten für öffentliche Verkehrsmittel in der Eintrittskarte enthalten waren.
Erste Reihe im zweiten Rang Mitte, das waren gute Plätze. Und die Oper ein Genuss. Als besonderen Gag hatten sich einige Sänger zu Beginn der Vorstellung unter die Zuschauer gemischt und sangen den Anfang ihrer Rolle aus dem Publikum heraus.
Einen Pausensnack hatten wir uns noch nie gegönnt, lediglich einen Sekt gab es ab und zu. Mussten wir auch nicht wieder haben, beschlossen wir nach der Pause, war ein bisschen Nepp, wenn man die Preise ins Kalkül zog. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, meinte meine Frau, als wir wieder Platz genommen hatten.
Auch der zweite Teil begeisterte uns. Musiker und Sänger von bester Qualität. Nicht ohne Grund war Stuttgart mehrmals zum besten Opernhaus Europas gekürt worden.
„Mann, das war eine klasse Vorstellung“, meinte denn auch meine Liebste, als wir wieder zum Bahnhof schlenderten.

Gegen dreiundzwanzig Uhr kamen wir am Bahnhof in Herrenberg an und fuhren mit dem Auto nach Hause.
„Wüsste doch zu gerne, wem wir diesen wunderschönen Abend zu verdanken haben“, sagte Elvira und da konnte ich ihr nur zustimmen. Obwohl ich es immer noch besser gefunden hätte, wenn man uns vor dem „Ausleihen“ des Schubkarrens gefragt hätte. Und doch war ich inzwischen ausgesöhnt. Man sollte nicht päpstlicher sein als der Papst.
In eine Unterhaltung über die Schauspielkunst der Sänger vertieft, betraten wir unsere Wohnung. Und schlagartig wurde uns klar, dass den Schubkarren besser der Teufel geholt hätte. Über den Boden verstreut lagen die Inhalte unserer Schubladen verstreut, alle Schränke waren aufgerissen, die Tür zum Balkon war aufgehebelt. Die Polizei fand keine Spuren. Außer der umfangreichen Münzsammlung fehlte aller Schmuck, sogar Großvaters goldener Ehering war weg. Ein mäßiger Verlust, wenn man bedenkt, welch wichtige Erkenntnis wir gewonnen hatten: Trau keinem Dieb, auch wenn er angeblich Reue zeigt.

Doch damit ist die Geschichte leider noch nicht zu Ende.
Ein paar Tage später traf dieser Brief ein.
„Liebe Schubkarrenbesitzer, sicher haben sie sich über die gelungene Aufführung gefreut. Es sei Ihnen gegönnt. Ich habe mich schon oft gewundert, wie naiv manche Menschen sind. Wie konnten Sie glauben, dass ein normaler Mensch sein schlechtes Gewissen auf diese Weise beruhigt? Beim nächsten Mal sollten Sie misstrauischer sein. Oder soll ich sagen: weniger dumm?“
Schon an dieser Stelle stand ich dicht vor dem Explodieren. Diesen Kübel an Spott und Hohn hätte ich nicht als Zugabe gebraucht. Es hatte auch so schon gereicht.
„An der Briefmarkensammlung habe ich meinen besonderen Spaß“, ging es weiter. „Wussten Sie, dass es darin einige Marken von beträchtlichem Wert gibt? Sicher nicht, sonst hätten sie die Alben nicht im Keller aufbewahrt, wo sie über kurz oder lang wegen der Feuchtigkeit wertlos geworden wären. Ich tippe mal auf ein Erbstück.“
„Verdammter Mist“, schimpfte Elvira, „die hab ich nicht mal vermisst. Haben wir auch bei der Polizei und bei der Versicherung überhaupt nicht angegeben. Waren die wirklich was wert?“
„Scheint so. Ich hab auch keine Ahnung davon. Sie stammen von Onkel Siegbert. Der hat doch jeden Scheiß gesammelt. Ich war nahe dran, den ganzen Krempel fortzuschmeißen.“
Auch mir war die Kinnlade runtergefallen. Doch es gab noch einige Zeilen.
„Sicher haben Sie sich auch gewundert, warum ich den echten Archäopteryx, der im Wohnzimmer an der Wand hängt, nicht mitgenommen habe. Bestimmt haben Sie einige Hundert Euro dafür bezahlt. Doch da sind Sie einer Fälschung aufgesessen, das Ding ist höchstens zwanzig Jahre alt und nicht mal sein Gewicht in Centstücken wert. Es ist mir fast peinlich, dass ich Ihnen diese unangenehme Wahrheit mitteilen muss.“
Nicht mal zum Fluchen reichte es mehr. Dieser Mistkerl von einem Dieb stahl uns unser Lieblingsstück, ohne es auch nur anzurühren. Niemals hätten wir an seiner Echtheit gezweifelt. Und nun hing da an der Wand nur noch ein Ding. Ein peinliches obendrein.

„Es tut mir unendlich leid“ endete der Brief, „aber ich muss Ihnen noch eine letzte Eröffnung machen. Ich hoffe, sie sind mir nicht böse dafür. Aber auch wenn ich ein Entwender bin, Ehrlichkeit ist mir ein hohes Gut.“
„Dieser Drecksack!“, entfuhr es Elvira, die mir über die Schulter blickte und mitlas. „Er macht sich noch über uns lustig.“
„Was kann jetzt noch kommen, das uns schocken könnte? Er hat uns doch schon vollkommen fertiggemacht.“
„Komm, lesen wir weiter, leeren wir den Kelch bis zur Neige.“
„Ich will euch mit den Details nicht langweilen, doch ich habe im Haus Beweise gefunden: Ihr betrügt euch gegenseitig, geht fremd, habt beide ein Verhältnis. Elvira mit einem gewissen Jonathan und Martin mit einer Monika. Jetzt könnt ihr euch in die Augen schauen und anlügen, dass sich die Balken biegen. Gleichwohl ist es wahr. Ich habe die Beweise und werde sie euch bei Gelegenheit unter der Tür durchschieben. Gehabt euch wohl. Euer Schubkarrenliebhaber.“

Bis heute weiß ich nicht wirklich, ob der Denunziant bezüglich Elviras gelogen hat. Sie hat es genau so vehement geleugnet wie ich.

© Marcel Porta, 2016
Version 2

Letzte Aktualisierung: 25.06.2016 - 09.35 Uhr
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