'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
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Vermutungen | Juli 2016
Der Quotenmann
von Marcel Porta

Riesenechsen stürzen sich auf Stefan, wühlen sich in seine Eingeweide. Der Schmerz ist unerträglich! Stefan windet sich und kann ihm dennoch nicht entkommen. Will schreien! Doch aus seinem weit geöffneten Mund dringt kein Laut. Gleißendes Licht gräbt sich unter seine Augenlider. Malträtiert sein Gehirn. Mühsam ringt er nach Luft, doch die dick geschwollene Zunge ist im trockenen Mund im Weg und die Nasenlöcher sind mit irgendwas verstopft.
„Herr Schneider, hören Sie mich?“
Die Stimme klingt, als müsse sie eine dicke Watteschicht durchqueren. Stefan versteht den Sinn der Frage nicht. Doch der Klang beruhigt ihn. Die Schmerzen im Oberbauch lassen nach. Die Echsen ziehen sich zurück. Langsam bekommt er wieder Luft.
„Wir werden Ihnen jetzt eine Lösung injizieren, Herr Schneider. Davon werden Sie endgültig aufwachen. Haben Sie mich verstanden?“
Mit aller Kraft versucht Stefan, den Kopf zu bewegen und obwohl er es selbst nicht merkt, scheint es ihm gelungen zu sein.
„Gut, keine Angst, es tut nicht weh.“
Stefan bemerkt nichts von einer Injektion, doch die Klarheit seiner Gedanken nimmt zu. Verdammt, wo bin ich hier? Der erste vollständige Satz, den er im Geiste zustande bringt. Keine Erinnerung. Verzweifelt bemüht er sich um Klarheit. Was um Himmels willen ist passiert?

„Herr Schneider, können wir nun miteinander reden?“
Ich muss wieder eingeschlafen sein, denkt Stefan. Erste Erinnerungsfetzen dringen in sein Bewusstsein. Stuttgart. Robert Bosch. Wieso der?
Obwohl die Zunge immer noch am Gaumen klebt, bemüht sich Stefan um Artikulation.
„Wo … bin … ich?“ Die Frage scheint verständlich gewesen zu sein.
„Im Krankenhaus. Sicher wollen Sie wissen, welches Jahr wir haben.“
Dieser Satz macht keinen Sinn. Ich bin doch nicht geistig behindert?! Oder doch? Was ist mit mir geschehen? Es ist mühsam, zu antworten.
„Ich weiß ... 2025.“
„2025 haben Sie sich einfrieren lassen. Stimmt. Jetzt haben wir 2311. Es ist der 12. Mai.“
Mit ungeheurer Wucht kommen die Erinnerungen, fluten sein Gehirn. Der Krebs. In der Bauchspeicheldrüse. Die Metastasen. Das Ende des Lebens vor Augen, mit 53 Jahren. Die Todesangst. Die Verzweiflung, Resignation. Dann die neue Hoffnung. Winzig zwar, doch nicht vollkommen irrational. Am Geld würde es nicht scheitern, davon hatte er mehr als genug. Die Zinsen würden reichen, seine Schlafphase zu finanzieren.
„Sie werden erst aufgeweckt, wenn es dank des medizinischen Fortschritts möglich geworden ist, Sie zu heilen.“ Hatte man ihm gesagt. Und er griff nach diesem Strohhalm. Elendig verrecken war die Alternative - was gab es da zu überlegen.
Man flößt ihm eine Flüssigkeit ein, und als er endlich die Augen öffnet, sieht er einen ganz in weiß gekleideten Mann in einem Stuhl an seinem Bett sitzen. Ein Arzt, denkt Stefan und schaut ihn sich genauer an. Verdammt jung erscheint er ihm.
„Wie sind meine Aussichten?“ Womit er zu verstehen gibt, Bescheid zu wissen.
„Man hat Sie aus dem Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart zu uns verlegt, weil wir seit einigen Jahren in der Lage sind, ihren Krebs zu heilen. Mittlerweile liegt die Erfolgschance der Behandlung bei 90 Prozent. Wir können Sie operieren und sie werden einige Monate lang Medikamente nehmen müssen.“
„Und die Nebenwirkungen?“ Die Erinnerungen an die letzten Tage vor dem Einfrieren rufen ein gediegenes Entsetzen hervor.
„Keine, die Zeiten sind vorbei.“
„Das ist ja wunderbar, wann können Sie operieren?“ Seine Artikulation wird zusehends besser.
„Wir müssen das schon morgen durchführen. Jeder Tag Verzögerung verschlechtert die Erfolgsaussichten“, erfährt er. „Heute müssen Sie sich erst mal von der Inhibernation erholen.“
Stefan setzt sich auf, die Kräfte kehren schnell zurück. Zudem verleihen ihm die positiven Aussichten längst verloren geglaubte Fähigkeiten.
„Dann hat es sich also doch gelohnt“, sagt er nach einer kleinen Ruhepause, die man ihm gönnt. „Einige meiner Freunde haben mir abgeraten. Aber mehr noch als die Angst vor dem Sterben hat mich die Neugierde bewogen, mich einfrieren zu lassen. Zu erfahren, wie die Welt in ferner Zukunft aussieht, was kann es Interessanteres geben?”
„Und, was haben Sie erwartet?”
„Eine Welt, in der Frieden herrscht. In der niemand mehr hungern muss.”
„Prima, da haben Sie es ziemlich gut getroffen.”
„Eine Welt also, in der es sich zu leben lohnt!”
„Natürlich. Es ist nicht das Paradies, aber es fehlt nicht viel.” Der weißgekleidete Mann strahlt bei diesen Worten über das ganze Gesicht. Jeder seiner Zähne ist mit einem kleinen Diamanten verziert. Ob die echt sind, denkt Stefan und zieht dann ein Fazit.
„Dann freue ich mich auf das geschenkte Leben.”
„Allerdings habe ich noch eine wichtige Mitteilung für Sie, die Ihnen vielleicht nicht ganz so gut gefällt.”
„Wie bitte? Was meinen Sie damit.” Stefan ist verblüfft. Bisher verlief das Gespräch so nett und freundlich, dass diese Ankündigung ihn erstaunt.

„Nun, das Geld, das Sie bereitgestellt haben, ist aufgebraucht. Die Energiekosten sind in den letzten Jahrzehnten so sehr gestiegen, dass das Kapital restlos verschwunden ist. Stellt sich also die Frage, wie Sie die Operation bezahlen wollen.”
„Das kann doch nicht sein?! Das Geld war bestens angelegt und ...”
„Herr Schneider, was ich Ihnen sage, ist die lautere Wahrheit. Oder glauben Sie, dass ich Ihnen vor einem Millionenpublikum etwas vorlüge?”
„Was? Wie?”
„Selbstverständlich wird dieses Gespräch live übertragen, Sie und ihr Fall sind seit Wochen angekündigt worden. Es laufen Wetten in dreistelliger Millionenhöhe.”
„Was soll das Ganze, ich sehe keine Kameras und was Sie sagen ist so widersinnig ...”
„Aber Herr Schneider, Kameras waren gestern. Dieser ganze Raum wird dreidimensional übertragen, wir befinden uns sozusagen in der Kamera, wenn wir dieses alte Wort benutzen wollen.”
„Aber was sollen diese Wetten? Worum geht es da? Das macht doch überhaupt keinen Sinn.”
„Es geht darum, ob sie die erforderliche Einschaltquote erreichen. Wenn ja, können Sie damit die Operation finanzieren. Wenn sie nicht erreicht wird ...”
„Ja? Was dann?”
„Dann wird es keine Operation geben.”
„Und ich werde sterben?”
„So sieht es aus. Aber Sie können einiges dafür tun. Sie haben hier und jetzt eine Bühne. Wecken Sie das Mitleid der Rezipienten! Oder einfach nur ihr Interesse. Machen Sie den Zuschauern klar, dass es wichtig ist, Sie zu retten, geben Sie Ihnen einen Grund, bei uns reinzuschauen. Im Moment haben wir eine Einschaltqoute von … Moment ...”, er schaut auf eine Art Armbanduhr, „38,78 Prozent. Wenn wir über fünfzig kommen, und sei es auch nur für eine Sekunde, zahlt der Sender Ihnen die Operation und spendiert darüber hinaus eine jährliche Apanage, mit der sie einen schönen Lebensabend verbringen können. Und ganz nebenbei, die Lebenserwartung beträgt mittlerweile einhundertsechzig Jahre.”
„Ich soll also hier und jetzt …?”
„Unbedingt, die Zeit läuft.”
Man sieht, wie es in Stefan arbeitet. Zwei Mal setzt er zu einer Frage an, spricht sie dann aber doch nicht aus. Schließt die Augen und atmet tief ein und aus.
„So wird das nichts”, teilt der Weiße, den Stefan immer weniger für einen Arzt hält, ihm mit, „die Quote ist bereits unter 35 Prozent gesunken. Sie müssen schon ein wenig mehr tun, als nur dazusitzen, um ihr Leben zu retten. Auf, mein Lieber, werden Sie zum Entertainer für Millionen!”
Da plötzlich kommt Leben in den Mann im Krankenbett. Zorn sprüht aus seinen Augen, die vor kurzem noch Hoffnung und Freude ausdrückten.
“Ihr glaubt also allen Ernstes, dass ich mich hier zum Affen mache? Dass ich um mein Leben bettle, mich prostituiere, um in einer Gesellschaft zu leben, in der die Einschaltquote über Leben und Tod bestimmt? Ich scheiß auf eure Operation! Lieber elendig verrecken als euren Speichel zu lecken. Hätte ich nur damals auf Thomas gehört. Er hat mir vorhergesagt, dass ich in einer zukünftigen Zeit nicht glücklich werde. Und wie recht er hatte! Hat mich irgendjemand gefragt, ob ich in eurem verfluchten Fernsehen, oder wie auch immer ihr dieses dreidimensionale Zeugs nennt, auftreten will? Nein! Schaltet das Ding sofort aus, ich will euren Medienrummel nicht! Haut ab und lasst mich sterben!”
Die Sätze sind nur so aus Stefan herausgesprudelt und er hat sich bei den letzten Worten im Bett aufgerichtet und sie herausgeschrien. Dann legt er sich erschöpft zurück und schließt die Augen.
“Aber Herr Schneider, Sie sehen das völlig falsch.“ Die Stimme klingt so salbungsvoll, dass Stefan fast übel wird. „Es ist ein Akt der Großzügigkeit, dass unser Sender Ihnen diese Chance bietet. Wir sind noch fünf Minuten auf Sendung. Ich bitte sie inständig: Verspielen Sie ihre einzige Chance auf das wertvolle Geschenk des Lebens nicht!”
“Warum lassen Sie mich nicht einfach in Ruhe?“ Stefans Stimme kling müde und resigniert. „Ich will ihr Geschenk nicht. Es ist mir zu teuer.”
Stefan weiß nicht, wohin er sich wenden soll, doch dann bricht es aus ihm heraus. “Ihr alle da draußen, ihr könnt mir gestohlen bleiben. Sucht euch eure Pausenclowns woanders. Stefan Schneider macht da nicht mit! Ich habe genug erfahren über eure schöne neue Welt. Sie kotzt mich an!”
Plötzlich kommt Leben in den Weißgekleideten. Aufgeregt fuchtelt er mit den Armen und seine Stimme überschlägt sich fast.
“Wahnsinn! Sie haben es geschafft. Die Quote ist auf 50,7 hochgeschossen. Sie sind der Erste aller Tiefgefrorenen, dem der Sender die OP bezahlen wird.”
Einige Augenblicke bleibt es ruhig im Zimmer, selbst die Möbel scheinen die Luft anzuhalten.
“Nein, bin ich nicht”, kommt es mit tonloser Stimme aus dem Bett. “Ich weigere mich. Wenn Freiheit noch irgendetwas gilt in der jetzigen Zeit, dann werde ich sterben dürfen. Schaltet das Ding ab und lasst mich in Ruhe.”

Die letzten Atemzüge Stefan Schneiders erzielen eine Einschaltquote von über 90 Prozent und bescheren dem Sender einen satten Gewinn.
© Marcel Porta, 2016
Version 1

Letzte Aktualisierung: 05.07.2016 - 07.41 Uhr
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