Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
Marlies ist aufgeregt. Zum ersten Mal seit ihrem Rentenbeginn vor einem dreiviertel Jahr trifft sie sich mit ihren ehemaligen Kolleginnen in dem Bistro nahe der U-Bahn-Station, wo sie frĂŒher stets ihren Absacker genommen hatten. Sie verspĂ€tet sich absichtlich. Fast den ganzen Tag hat sie beim Friseur, bei der Kosmetikerin und im Nagelstudio verbracht. Ins Solarium geht sie sowieso. Sie verwuschelt ihre Haare.
âTut mir leid, das Golftraining dauerte lĂ€nger als geplant. Ich bin nicht 'mal zum Friseur gekommenâ, entschuldigt sie sich hastig. Ein schneller Blick ĂŒber den Tisch: Ja, die erste Flasche Prosecco ist schon leer.
Helga, ihre frĂŒhere Chefin, ist in den vielen Jahren fast eine Freundin geworden. âConny und Susi. AnfĂ€ngerinnen. Und schon angetĂŒtteltâ, registriert Marlies zufrieden.
âSo gut wie du möchte ich es auch haben. Jeden Tag ausschlafenâ, grinst Conny, ohne die Tipperei auf ihrem Smartphone zu unterbrechen.
âUnd abends pĂŒnktlich ins Bett. Keine Ăberstunden mehrâ, seufzt Helga und denkt an ihren Geschiedenen.
âDu hast es mit dem Vorruhestand schon richtig gemacht. Und auĂerdem: Keine Kinder, kein Mann heiĂt was, MĂ€dels?â, haut Susi zusammenhanglos den rituellen Klopfer raus. Sie ist die jĂŒngste in der Runde.
âKeine zusĂ€tzliche Arbeitâ, brĂŒllen die Vier und ordern die nĂ€chste Flasche.
âMal im Ernstâ, hakt Helga nach. âWie geht es dir wirklich? Braungebrannt bist du ja. Und 'ne neue Frisur hast du auch. Steht dir ĂŒbrigens gut.â
âBestens! Besser könnte es gar nicht seinâ, gibt Marlies an. âHabt ihr denn meine Karte von den Malediven nicht bekommen?â
âHĂ€ngt an der Pinnwandâ, bestĂ€tigt Conny, checkt weiter ihre Mails und lĂ€sst Susi mitlesen.
Helga nippt ausdruckslos an ihrem Glas und wirft einen prĂŒfenden Blick auf Marlies.
âMal abgesehen von den Reisen, habe ich kaum Zeit, weil ich seit kurzem Golf spiele. Ihr glaubt gar nicht, wie gesund das ist. So ein Parcours dauert gut und gern vier Stunden. Und mein Handycap kann sich fĂŒr die kurze Zeit, die ich dabei bin, durchaus sehen lassen. Immerhin Vierundzwanzig.â
Susi hört nur den Rest und prustet los: âVierundzwanzig was? MĂ€nner?â
âWas du immer denkstâ, mokiert sich Marlies geschmeichelt.
âAber, wo wir von MĂ€nnern reden ⊠Mir kommt da was komisch vor in meinem Hausâ, setzt sie an.
Susi kann es nicht lassen: âOder vierundzwanzig Mal ein und derselbe?â
âDeswegen die neue Frisurâ, juchzt Conny und legt ihr Smartphone beiseite.
âWirklich, jetzt mal im Ernst. Bei mir im Erdgeschoss stimmt was nicht.â
Conny hat einen Lachflash: âWieso Erdgeschoss? Ist er ein FuĂfetischist? Meine ziehen die oberen Etagen vor!â
âMittellage spart Energieâ, keucht Susi mĂŒhsam. Vor Lachen bekommt sie kaum noch Luft.
Helga klopft an ihr Glas und bringt wie frĂŒher Ruhe in die Runde: âNun lasst doch Marlies mal erzĂ€hlen. Was ist so merkwĂŒrdig bei dir im Haus?â
âKeine Mittellage, nur Erdgeschossâ, explodieren Conny und Susi erneut und fallen sich japsend in die Arme.
âDas muss ich sofort postenâ, greift Conny nach ihrem Smartphone.
âIch bin ja nur selten zuhause, weil ich so viel auf dem Golfplatz oder auf Reisen binâ, wendet sich Marlies jetzt direkt an Helga:
âIn der betreffenden Wohnung wohnt ein Peter MĂŒller. Das weiĂ ich vom TĂŒr- und Briefkastenschild. Er könnte genauso gut Michael Meier heiĂen. Das sind Allerweltsnamen, bestens fĂŒr jede Tarnung.â
Conny und Susi stöhnen unisono: âDu bist in Rente! Nichts mehr mit Ermittlungen!â
UngerĂŒhrt fĂ€hrt Marlies fort:
âAlle Fenster sind mit schwarzen Innenrollos versehen.â
âWas fĂŒr eine Erkenntnis, und das im Erdgeschoss. Könnte ja jemand zuguckenâ, krĂŒmmen sich Conny und Susi.
âDie Rollos sind aber Tag und Nacht geschlossenâ, beharrt Marlies.
âDer Briefkasten wird entweder geleert oder es kommt keine Post. Aus der Wohnung hört man gar nichts, keine Musik, keinen Fernseher, keinen Streit. Ich habe mich beim BĂ€cker und beim EDEKA erkundigt. Dort sagt man, niemand kenne den Typ. Er soll vor drei Monaten eingezogen sein. Mich stört, dass dort nie ein Fenster geöffnet wird und dass man so gar kein Lebenszeichen hört. Nicht mal die KlospĂŒlung, sagen die direkten Nachbarn. Die Wohnung scheint hermetisch dicht zu sein.â
Sie bestellt eine weitere Flasche, beugt sich vor und eröffnet: âAuĂerdem fĂ€llt ĂŒberhaupt kein MĂŒll an! Ich kontrolliere das tĂ€glich. Und die Miete wird regelmĂ€Ăig ĂŒberwiesen, ich habe den Vermieter mal so nebenbei befragt.â
Jetzt hören sogar Conny und Susi gespannt zu.
âDas steht dir ĂŒberhaupt nicht zu! Du bist nicht mehr im Dienstâ, schimpft Helga, rĂ€umt aber ein, dass die Beobachtung doch zu denken gibt.
Marlies erteilt AuftrĂ€ge: âIhr mĂŒsstet klĂ€ren, ob ein Telefonanschluss existiert. Vermutlich nicht. Solche Typen haben Prepaid-Handies. Und eine detaillierte KontenprĂŒfung mĂŒsste vorgenommen werden. Von wem wird die Miete bezahlt? Stimmt der Name an der TĂŒr ĂŒberhaupt? Wer leert den Briefkasten? Der Hausmeister?â
âIch finde, du gehst ein bisschen weit. Du weiĂt genau, dass wir dafĂŒr keinen Beschluss bekommenâ, wiegelt Helga ab.
âDann lasst wenigstens einen Sprengstoff- oder Drogenhund an der TĂŒr schnĂŒffeln. Ich habe kein gutes GefĂŒhl bei dieser Wohnungâ, insistiert Marlies.
âDu weiĂt genau, dass jeder Viecher-Einsatz dokumentiert werden mussâ, mischt sich Conny ein. âIch kenne aber einen âŠâ
âDu kennst 'ne ganze Mengeâ, prustet Susi wieder los.
âKlappe. Ich kenne jedenfalls einen von den Hundeleuten. Der könnte sich ja mal beim Gassigehen verlaufen.â
âDavon weiĂ ich gar nichtsâ, stimmt Helga zu.
âNatĂŒrlich könnte ich Adresse und Name durch die Datenbank jagen, aber die Abfrage wird gespeichert. Ich setze doch nicht meinen Job aufâs Spiel fĂŒr so einen vagen Verdachtâ.
âAuĂerdem, wenn es um das geht, was ich denke, stimmt der Name sowieso nicht. Wer heiĂt schon Peter MĂŒllerâ, mischt sich Conny ein. Ihr Jagdinstinkt ist geweckt.
âVielleicht ist der Typ nur seit ein paar Monaten im Urlaub? Marlies war ja auch ganz schön lange weg. Wissen wir, mit wem?â, wagt sich Susi vor.
âIch schwöre euch, das ist ein Drogendepot oder eine IS-SchlĂ€ferwohnungâ, beharrt Marlies.
âWenn es KindesmiĂbrauch oder âporno wĂ€re, wĂŒrde man vielleicht etwas hören. Obwohl, wenn die Wohnung schalldicht gemacht wurde âŠâ, spekuliert Conny.
âDann hĂ€tten die Nachbarn doch irgendwann mal jemanden kommen oder gehen sehen oder man hĂ€tte zumindest das Klo gehörtâ, hĂ€lt Marlies dagegen.
âDie Toilette kann man durch ein Chemie-Klo ersetzen. Und wenn der Typ leise genug ist, bekommt niemand was mit. Auch deine Nachbarn nicht. Du bist ja sowieso fast nie zuhauseâ, kontert Conny.
âHast du oder irgendjemand mal gehört, ob bei euch von Zeit zu Zeit ein unbekanntes Auto vorfĂ€hrt oder parkt?â, unterbricht Helga den aufkommenden Streit.
âDefinitiv nicht. Ich achte genau darauf und habe auch die Nachbarn schon befragt.â
âBitte? Du kannst doch nicht ohne Grund deine Nachbarn befragen.â
âKein Problem, die wissen doch, dass ich bei der Polizei binâ, antwortet Marlies.
âIm Gegenteil, die beobachten die Wohnung noch genauer als vorher.â
âDu bist nicht, du warst bei der Truppeâ, korrigiert Helga energisch.
âMit der Rente habe ich doch mein Gehirn nicht abgegebenâ, empört sich Marlies.
âNein natĂŒrlich nicht. Und deine Beobachtungen sind schon auffĂ€llig. Lassen wir erst mal Connies Bekannten mit seinem Hund dort Gassigehen, dann haben wir eventuell Handlungsbedarf. Heute können wir gar nichts mehr tunâ, beruhigt Helga die aufgeregten Drei und verzieht sich auf die Toilette, um unbemerkt den Nachtdienst zu informieren.
âWenn er aber doch ein KinderschĂ€nder istâ, sorgt sich Conny mit feuchten Augen und leert ihr Glas: âDem muss man doch sofort das Handwerk legenâ.
âGenauâ, schnieft Susi. âDenk mal bloĂ an den Belgier.â
Marlies tröstet beide: âDas ist mit Sicherheit ein Drogenring oder eine SchlĂ€ferwohnung vom IS. Keine Sorge. Das hat nichts mit Kindern zu tun. Mein BauchgefĂŒhl tĂ€uscht mich nie.â
Helga kommt zurĂŒck: âDamit hier Ruhe ist: Ich habe die Nachtschicht informiert. Wenn Zeit ist, werden sie mal nachschauen. Alles klar? Wo waren wir? Beim Handycap. ErzĂ€hlâ doch mal, Marlies. Was ist das ĂŒberhaupt? Und wieso musst du dafĂŒr vier Stunden laufen?â
Marlies versucht, zu antworten, wird aber von Connies und Susis Kreischen ĂŒbertönt: âHandycap ist, wenn er nicht kann. Vierundzwanzig Mal nicht kann!â
âMĂ€dels, nun reicht es aberâ, weist Helga die Kicherliesen zurecht. âWir wollen doch hören, was Marlies auĂer Golf und Reisen noch so macht.â
âOch, nichts weiter. ErzĂ€hlt lieber mal was von euren aktuellen FĂ€llen.â
âDĂŒrfen wir nicht, weiĂt du dochâ, bedauert Helga.
Conny beginnt mit dem BĂŒrotratsch ĂŒber die neue SekretĂ€rin vom Chef, die soll was mit einem von ganz oben haben und nur deswegen habe sie die Stelle bekommen. Begierig stĂŒrzen sich die Drei auf das Thema. Marlies kennt die Neue nicht und kann nicht mitreden.
Stark angetrunken, mĂŒde und enttĂ€uscht fĂ€hrt sie mit dem Taxi spĂ€t nachts nach Hause. Das grelle Blaulicht lĂ€sst sie aufmerken. Sie bittet den Taxifahrer, Motor und Licht abzustellen und zu warten. Sie beoachten den Abtransport eines Sarges und den Einsatz der âWeiĂkittelâ.
Marlies will nicht von den ehemaligen Kollegen gesehen und befragt werden, sie drĂŒckt sich tief in den Autositz.
âHoffentlich hat Helga keine Details erzĂ€hltâ, sorgt sie sich, wĂ€hrend das Taxameter Euro auf Euro zusammentickt.
âSie wohnen doch da. Haben Sie denn nichts bemerkt?â, fragt der Taxifahrer.
âAbsolut nichtsâ, lĂŒgt Marlies, zahlt die horrende Summe und begibt sich zu ihrer kleinen Wohnung, die so sauber ist, dass sie nicht mal Zeit mit Putzen totschlagen kann.
Letzte Aktualisierung: 24.07.2016 - 09.56 Uhr Dieser Text enthält 9906 Zeichen.