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Vermutungen | Juli 2016

Krasse Ödigkeit
von Anne Zeisig

Massi stocherte mit einem dünnen Ast im Sand herum. Die schwarze Nerd-Brille betonte seinen Schweinchenrosa-Teint unvorteilhaft. Das schwarze Shirt mit einem Totenkopfaufdruck machte das nicht besser. Unter dem engen Oberteil zeichneten sich Speckröllchen ab. Gruftishirts für fünf Euro Taschengeld gab es nicht in Tripple-XL.

Sein Freund Pelle, gut drei Köpfe größer und zwanzig Kilo leichter, wippte auf der Schaukel hin und her. Die Cargohose flatterte um seine Spargelbeine.
“Ferien sind langweilig, wenn man PC- und Handyverbot hat.”
Es war kühl und bewölkt, somit hatten sie den Spielplatz für sich alleine, der nur für Kinder bis Zwölf zulässig war, was auf dem vergilbten Schild am Eingang stand.
Sie waren bereits Dreizehn. Wenigstens war heute niemand hier, der sie vertreiben könnte.

Massi blickte hoch. “Da kommt Ürugan! Vielleicht hat der ‘ne Idee.”
“Hey Alter!”, riefen sie ihm entgegen. “Echt ey, wir kommen um vor Ödigkeit!”
Pelle sprang von der Wippe hinunter und setzte sich zu Massi in den Sandkasten. Er zog sein viel zu kurzes Shirt vorne über die Hose.
Gruftishirts gab es nicht in X-Large.
Jedenfalls nicht beim Textil-Discounter.

Einzig Ürugans Shirt saß wie angegossen, denn sein Vater betrieb eine Änderungsschneiderei, außerdem hatte Ürugan eine Top-Figur, jedenfalls behaupteten das die Mädels aus der Sieben
Be.
Massi setzte auf seine inneren philosophischen Werte, aber das checkte keine aus der Klasse.
Pelle kümmerte sich einen Scheißdreck um seine Außenwirkung beim anderen Geschlecht und zog einfach sein Ding durch. Deshalb hatte er auch die zündende Idee: “Leute! Wollt ihr nur wie Gruftis aussehen, oder wollt ihr echte Gruftis sein?”, fragte er und schlug vor, man könne sich doch heute bei Dunkelheit auf dem Friedhof treffen.
“Und was sollen wir da machen?”, fragte Massi.
Ürugan nickte. “Da ist doch nur Totenstille.”
“Dreiundzwanzig Uhr am Haupteingang Westfriedhof”, bestimmte Pelle.
Massi rückte seine Brille zurecht. “Aber ich muss auch in den Ferien um Zehn Zuhause sein.”
“Alter! Ihr wohnt im Parterre! Fenster leise auf und raus!”

* * *

“Wetten? Feigling Massi kommt nicht.” Pelle hatte seine Hände tief in der Cargohose vergraben.
Aber da sahen sie auch schon im Schein der Laternen, wie der Freund den Bürgersteig hinauf humpelte.
“Scheiße gelaufen mein Absprung! Hättet mir vorher sagen können, dass ich Hochparterre wohne!”
“Ja klar, unser Möchte-Gern-Philosoph hätte gerne eine Zeichnung gehabt.”
Ürugan zeigte auf Massis Fuß. “Verstaucht?”
“Schlimmer! Gebrochen. Weit lauf ich mit dem Sprunggelenk nich.”
Pelle winkte ab. “Is nur verstaucht.”
“Solche Schmerzen hat man aber bei einer glatten Fraktion, äh, Fraktur! Und deshalb geh ich auch nur bis zum ersten Gräberfeld.”
Sie öffneten das quietschende geschmiedete Tor. Pelle ging voran und leuchtete mit einer Taschenlampe den Weg aus.
Massi stöhnte. “Da hinten ist die Bank. Die Ecke kenne ich, weil meine Oma da begraben ist.”
“Warten echte Gruftis denn nicht bis Vollmond?”, fragte Ürugan. “Oder ist das bei Christen anders?”
Sie hatten die Bank erreicht und setzten sich.
“Mach endlich das blöde Licht aus”, zischte Massi. “Oder soll uns jemand entdecken?”
Irgendwie war es unheimlich, wie sich die schwarzen Sträucher im Wind wiegten und die Blätter rauschten.
“Absolut still ist es hier aber nicht”, stellte er fest.
“Weil es windig ist.”
“Klaro, Pelle Oberschlau. Aber wie ist das denn nun bei euch Christen?”
Massi scharrte mit seinem verletzten Fuß im Kies: “Gruftis sind, glaube ich, keine Christen. Egal. Aber Christ bist du immer, wenn du getauft bist. Christen glauben an den jüngsten Tag, weil dann alle Toten auferstehen zu neuem Leben.”
“Echt krass Alter. Und wenn heute dieser Tag ist?”
“Dann gibt es hier einen Massenauflauf”, antwortete Pelle und lachte.
Massi wurde es unheimlich zumute. “Irgendwo da in der Mitte ist das Grab meiner Oma. Das war vielleicht ‘ne alte Hexe, sage ich euch. Die sollte lieber nicht auferstehen!”
Ürugan riss seine dunklen Augen auf. “Werden die Schlechten etwa auch aufleben?”
Pelle grinste immer noch. “Die Christen glauben, dass es einen Auferstehungstag geben könnte, aber genau wissen sie es nicht.”
“Mein Oppa war froh, als meine Omma gestorben ist. Die hat dem das Leben zur Hölle gemacht. Der hat immer noch Alpträume.”, flüsterte Massi.
“Jetzt schmorrt deine Oma bestimmt im heißen Fegefeuer”, meinte Pelle.
“So wird es sein.” Massi lächelte. “Das nennt man wohl ausgleichende Gerechtigkeit.”

Der Wind wurde stärker.
Und das Rauschen der Blätter unheimlicher.
“Wie lange muss man als Grufti hier auf der Bank sitzen?” Den schmerzenden Fuß hielt Massi nun still.
“Bis zur Geisterstunde um Mitternacht”, antwortete Pelle und fragte Ürugan: “Und wie funktioniert das bei den Moslems?”
Der zuckte mit den Schultern. “Wir sind keine gläubige Familie. Mein Vatta sagt, wird man schon merken, wenn es soweit ist, denn ein Gott ist für alle da, egal, ob der Allah heißt oder wie auch immer.”
“Keine Jungfrauen im Jenseits?”, bemerkte Massi enttäuscht, weil er irgendwo mal sowas gehört hatte.
Ürugan stieß ihn in die Seite. “Glaub doch son Quatsch nich, Alter. Die Jungfrauen gibt es höchstens in der Sieben Be.” Sie kicherten.
“Wenn meine Oma wieder lebendig würde, wäre das der krasse Oberhammer für mich.” Pelle schluckte den harten Knoten in seiner Kehle hinunter und sagte leise, “eigentlich sind Menschen, die an Auferstehung glauben, zu beneiden. Das tröstet sie.”
“Dann glaub doch dran, wenn es dir damit besser geht, Alter”, schlug Ürugan ihm vor.
“Psssst. Habt ihr das gehört?” Massi zeigte den Weg hinunter zum Friedhofstor. “Ich habe Schritte auf dem Kiesweg gehört.”, zischte er leise.
Pelle stand auf und reckte sich. “Mach dir keine Sorgen, das ist deine Hexenoma. Die holt dich jetzt zu sich in die Gruft, weil du schlecht über sie geredet hast!”
“Spinner!” Nun stand auch Massi auf. “Das hat man davon, wenn man dir wegen deines Handyverbotes Gesellschaft leistet.”
“Dann geh doch zu Mama und lass dich Pampern”, meinte Pelle.
“Psst, Alter. Da kommt Jemand.”
Pelle blickte um sich.“Wir verstecken uns hinter einem Busch.”
Und tatsächlich sahen sie einen dunklen Schatten den Hauptweg hinaufkommen, er bog in einen schmalen Nebenweg ab und blieb mittig des Grabfeldes stehen.
“Ich glaub es nich”, wisperte Massi. “Da ungefähr ist das Grab meiner Omma.”
Ürugan wischte sich den Angstschweiß vom zarten Oberlippenbart. Er merkte, wie Massi zitterte und legte ihm seinen Arm um die Schultern.
“Das ist ein Auferstandener”, war Ürugan sich sicher, “weil heute der Jüngste Tag ist.”
“Und wo sind die anderen?”, fragte Pelle. “Einer alleine kann doch nicht auferstehen.”
Immer noch stand die Gestalt bewegungslos auf dem Grabfeld.
Schluchzte sie?
“Mist Alter, jetzt geht das Geflenne los”, meinte Ürugan.
Aber dann wurde es laut. “Lass mich endlich in Ruhe!”, schrie die Gestalt.
“Ich hau ab!” Massi erhob sich und stob in eine Hecke, stolperte, fiel hin, raffte sich auf, nahm Anlauf, bezwang die Friedhofsmauer, ließ sich auf der anderen Seite in die Sträucher fallen und rannte den Bürgersteig hinunter bis zur Bushaltestelle, wo er sich keuchend hinsetzte.
“Massi!”
“Warte!”
Die Freunde waren ihm gefolgt. “Ey Alter! Beim Sport kriegste kein Bein hoch, aber mit ‘nem verstauchten Knöchel Hochsprung machen!”
“Der ist gebrochen!” Er wischte sich die nasse Stirn mit dem Handrücken ab.
“Wenn ihr mich fragt”, Ürugan zeigte auf sein Totenkopfshirt und sagte atemlos, “Gruftisein ist nichts für mich. Und Auferstehungstage auch nicht.”
“Wie können uns ja was Neues suchen”, schlug Pelle vor, “die Ferien haben schließlich erst angefangen.”
“Ich setz mich lieber an den PC.” Massi rieb sich den Knöchel.
“Jau Alter, chatten is cooler.”
Pelle seufzte. “Hätte von euch ‘n bißchen mehr Solidarität erwartet.”
“Dann kommste halt zu mir gamen, Alter!”
“Alles klaro, mein kaputter Knöchel is ma wieder Nebensache.”


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Letzte Aktualisierung: 15.07.2016 - 07.18 Uhr
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