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Vermutungen | Juli 2016

Schatten der Vergangenheit
von Ingo Pietsch

Der Direktor des Louvre in Paris schloss die Augen und wollte in sein lecker belegtes Croque beißen, als das Telefon klingelte. Einen Moment hielt er inne, um zu überlegen, was wichtiger sei und drückte schließlich mit dem kleinen Finger auf die Freisprechtaste.
„Monsieur, hier unten sind zwei Herren, die unser Sicherheitsdienst nicht unter Kontrolle bringen kann. Einer von ihnen ist ein deutscher Polizeibeamter mit Namen Gerhard Otto. Er sagt, er ermittle in einem wichtigen Fall. Außerdem ist er mit einer Baguettestange bewaffnet und bedroht uns damit. Er reagiert nicht darauf, dass er keine Lebensmittel mit ins Museum nehmen darf. Sein junger Kollege hat es ihm schon übersetzt, aber er will davon nichts wissen. Vielleicht sollten Sie mal runterkommen.“
Der Direktor sah auf den großen Monitor in seinem Büro, wie der dickere der beiden das Baguette wie ein Schwert schwang und die Wachmänner Abstand hielten. Als er die zweite Person erkannte, sagte er: „Bringt mir die beiden hoch. Sie sind meine Gäste.“

Otto hielt die Baguettestange fest umklammert und blickte so lange grimmig zur Tür, bis die Wachmänner sie geschlossen hatten.
Der Direktor stand vor seinem Schreibtisch und streckte den beiden, einer nach dem anderen, die Hand entgegen.
„Commissaire Otto, Monsieur Zinklär, setzen Sie sich doch bitte“, lud sie der Direktor in perfektem Deutsch ein.
Als alle Platz genommen hatten, schob der Direktor sein Croque zur Seite, was Otto mit den Augen gierig verfolgte.
„Gut, dass Sie deutsch sprechen“, begann Otto, „mein Französisch beschränkt sich leider auf Brie, Camenbert, Crepes und Vin de Table.“
Niemand lachte, nur Otto kicherte unsicher.
„So, Messieurs. Mein Name ist Alessandro daVinci. Ich bin der Direktor des Louvre und würde gerne von Ihnen wissen, warum sie so einen Aufstand veranstalten“, DaVinci hatte die Hände zusammengefaltet und machte es sich in seinem Ledersessel bequem. Er trug einen teueren Anzug, während Zinklär sein übliches Lederoutfit trug und Otto mit seinem vor Dreck stehenden Regenmantel punktete.
Zinklärs Kleidung knarrte, als er sich vorbeugte: „Woher kennen Sie meinen Namen? Ich habe ihn bisher nicht genannt.“
Otto brachte kein Wort hervor. Er starrte weiterhin auf das Croque.
DaVinci spielte mit seinen Fingern: „Ganz einfach. Sie sehen ihrem Vater zum Verwechseln ähnlich.“
Zinklär war verwundert. Selbst seine Mutter hatte ihn nur selten erwähnt. Und jetzt sprach ihn ein völlig Fremder darauf an. Zinklärs Vater hatte ihn und seine Mutter im Alter von drei Jahren verlassen. Zwar hatte er immer wieder nachgehakt um mehr über seine Familie zu erfahren, doch seine Mutter hatte sich dagegen gesperrt. „Es ist besser so“, hatte sie immer gesagt. Es gab auch keine Fotos von ihm.
„Ihre Mutter hat anscheinend nicht viel über ihn gesprochen?“, folgerte der Direktor, als er den gedankenverlorenen Zinklär musterte.
„Lebt er noch?“, wollte Zinklär wissen.
„Ich weiß nicht genau. Er musste untertauchen. Davor hat er immer wieder von sich reden gemacht. Wissen Sie, er ist in etwas verstrickt, das einer Revolution gleicht. Er hat die gleiche Fähigkeit wie sie. Und noch mehr. Er kann durch bloßes Anfassen von Personen und Gegenständen nicht nur Gefühle und Informationen erlangen; er kann sie sogar manipulieren. Leider passierten dabei einige Dinge, die gewissen Leuten nicht gefallen haben. Auch wenn Sie es noch nicht bemerkt haben, aber wir – Mutanten ist so ein hässliches Wort – Befähigte, ja, wir werden beobachtet und kontrolliert. Die Menschen haben Angst vor uns, und deshalb haben sie eine Organisation gegründet, die uns überwacht.“
Otto war aus seiner Lethargie erwacht. Ihm lief ein Sabberfaden aus dem Mundwinkel: „Sie wollen mir also weismachen, dass diese ganzen Filme über weiterentwickelte Menschen wahr sind?“
DaVinci wiegte seinen Kopf: „Naja, wir tragen keine selbstgenähten Kostüme in leuchtenden Farben mit einem flatternden Cape. Aber einige von uns können ziemlich gefährlich werden, wenn man sie reizt.“
„Was können Sie denn?“, Ottos Nackenhärchen stellten sich auf.
„Ich zeige es ihnen. Sehen Sie mir in die Augen.“ DaVincis durchdringender Blick traf den seinen.
Otto verharrte mitten in der Bewegung und rührte sich nicht mehr. Er war wie eingefroren und atmete ganz flach.
Zinklär beugte sich zu ihm herüber, schnippte und winkte vor Ottos Gesicht, doch der reagierte überhaupt nicht.
„In meiner Familie gab es viele begnadete Künstler.“ DaVinci zeigte auf ein Bild an der Wand, das entfernte Ähnlichkeit mir der Mona Lisa hatte, aber eher von Henry Matisse zu stammen schien. „Was mir leider nicht vergönnt ist. Aber diese Fähigkeit erleichtert einem die Arbeit ungemein. Und ich muss zugeben, dass ich als kleiner Junge einige Dinge angestellt habe, auf die ich nicht stolz bin.“
„Sieht und hört er denn alles um sich herum und merkt er, was mit ihm geschieht?“
„Ja, man bleibt bei vollem Bewusstsein. Und ich muss zugeben, dass es in der Vergangenheit auch kriminelle Subjekte gab, die den Namen DaVinci beschmutzt haben.“ DaVinci senkte den Blick. „Und deshalb gibt es die Organisation. Befähigte, wie ihr Vater, waren schon immer dagegen, kontrolliert zu werden. Ich muss zugeben, dass es nicht angenehm ist, auf Schritt und Tritt überwacht zu werden. Ich habe allerdings auch nichts zu verbergen.“
„Mit ist nie aufgefallen, dass ich beschattet werde“, sagte Zinklär.
„Kann ich mir gut vorstellen. Nicht selten setzen sie unseresgleichen dafür ein. Aber mal was ganz anderes: Wie haben Sie überhaupt zu mir gefunden?“
Zinklär berichtete von dem Mordfall im Hamburger Kunstmuseum und das nur ein Befähigter die Koordinaten hatte finden können.
DaVinci rieb sich sein Kinn: „Richard Kranzel kannte ich. Er hatte fast die gleichen Fähigkeiten wie ihr Vater. Mich interessiert, warum jemand die Koordinaten des Louvre hinter einem Bild verstecken sollte – was natürlich zwangsläufig auf mich verweist. Und was noch viel wichtiger ist: Wer würde diese Information stehlen wollen? Oder ist das nur ein Zufall?“
„Auf dem Video war eindeutig zu sehen, dass der Dieb zielgerichtet auf dieses spezielle Bild von Saditzki zugelaufen ist und dass er dafür bereit war, zu töten.“
„Die einzige Verbindung, die ich im Moment sehe, ist ihr Vater und Vater und Kranzl. Sie waren gute Freunde und hatten ähnliche Stärken. Der einzige, der jetzt noch weiterhelfen könnte, ist ein gemeinsamer Bekannter. Er lebt in Österreich und heißt Dr. Sören Dorndau.“
„Wie heißt mein Vater überhaupt? Meine Mutter hat seinen Namen nie genannt und ich habe nie gefragt“, Zinklär rutschte in seinem Stuhl herum.
„Renard Robert. Stellen Sie aber nicht zu viele Fragen. Die Organisation sieht das nicht so gerne. So, dann wollen wir ihren Kollegen mal wieder aus der Starre befreien.“
Otto schüttelte den Kopf: „Das war unheimlich. Jetzt habe ich einen Bärenhunger.“
DaVinci war erstaunt; „Interessant - Normalerweise reduziert sich der Stoffwechsel.“
„Da ist gar nichts Ungewöhnliches dran. Mein Kollege hat immer Hunger“, meinte Zinklär.
Otto tippte sich gegen die Stirn: „Mein Denkapparat verbraucht eine Menge Energie.“
„Möchten Sie vielleicht mein Croque?“, fragte DaVinci.
Otto grinste: „Wenn es ihnen keine Umstände macht.“

Zinklär fürchtete sich schon vor dem Wohnmobil. In der Tat konnte Otto wirklich gut Arien schmettern. Doch nach zwei Tagen Landstraße, dröhnten Zinklär die Ohren. Der ganze Boden war mit Verpackungsmüll übersäht und es roch nach vernachlässigter Körperhygiene.
Zinklär holte tief Luft und freute sich darauf, mehr über seinen Vater zu erfahren.

DaVinci sah aus seinem Bürofenster und wartete, bis das Wohnmobil außer Sichtweite war. Dann wählte er einen Kontakt in seinem Handy.
„Goldstein“, meldete sich eine Stimme am anderen Ende.
„Hier DaVinci. Zinklär ist gerade in Begleitung dieses Kommissars hier gewesen. Ich habe sie zu Dorndau geschickt.“
„Gut. Ich habe im Moment genug mit den Deutschen um die Ohren. Ständig kommen mir Laubner und Schulz in die Quere. Aber das ist mein Problem. Unser Arbeitgeber wird mit ihnen zufrieden sein.“
DaVinci grinste und legte auf. Der Welt stand noch großes bevor.

Letzte Aktualisierung: 27.07.2016 - 19.22 Uhr
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