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Vermutungen | Juli 2016

Vermutungen
von Susanne Rzymbowski

„Vermutlich wird sich das Ozonloch Mitte des 21. Jahrhunderts wieder schließen, wenn wir an unseren Bestrebungen festhalten und die FCKW-Ausschüttungen weiterhin reduzieren,“ dozierte Prof. Langmuth, in dem er sorgfältig seine Blätter am Rednerpult ordnete und endete seine Rede mit den Worten: „Unsere Messungen weisen jetzt schon starke Rückgänge auf, die sehr vielversprechend sind.“ Prof. Langmuth erntete wie gewohnt viel Applaus von der Zuhörerschaft und zog sich nach weiterem Händeschütteln aus dem Dozentenkreis zurück.

Ja, man hatte die Dinge wieder unter Kontrolle und die ausführlichen Messdaten dokumentierten in einer Präzision von einem Nanometer eine eindeutige Entwicklung. Eigentlich hätte Herr Hinrich, der dem Vortrag gefolgt, beruhigt sein können. Doch er zweifelte – nicht etwa an den Worten oder Messungen von Prof. Langmuth, sondern an der Annahme Dinge rückgängig machen zu können. Dies konnte er sich einfach beim besten Willen nicht vorstellen, setzte es doch das gesamte physikalische Denken des Abendlandes außer Kraft.
Nicht dass Herr Hinrich studiert wäre, aber sein Interesse an den Dingen hatten ihn schon zu so manchen Vortrag geführt, den er mit höchster Konzentration verfolgte. Und immer blieben ihm Zweifel. Auch heute war er alles andere als entspannt, als er den Hörsaal verließ. Wie sollte man Dinge rückgängig machen können? Darauf wusste er sich keinen Rat, denn schließlich lebten wir in einer Zeitachse, die sich vorwärts bewegt und all unser Handeln und Denken ist auf eine Vorwärtsbewegung ausgerichtet.
Herrn Hinrichs fiel kein einziges Beispiel für eine Rückwärtsbewegung ein, was er im Lauf der Jahre hätte beobachten können. Das ganze Leben, so wie wir es kannten, war doch auf Wachstum ausgelegt. Tiefer und tiefer wurden Herrn Hinrichs Stirnfalten, je länger er darüber nachgrübelte.
Sollte das Gesagte etwa bedeuten, dass wir uns zurückentwickelten? Und wie sollte das dann aussehen? Würden wir wieder kleiner? Würden wir schrumpfen? Und womöglich mit ihm das Gehirn, auf das wir doch alle so unendlich stolz und unser höchstes Gut? Ja, womöglich würden wir den Affen wieder gleich und wieder behaart durch die Gegend laufen? Und was kam vor den Affen, von denen wir doch abzustammen schienen?
Eine Frage jagte die nächste und Herrn Hinrichs Schritte beschleunigten sich, so sehr war er in sein Grübeln vertieft. Und ja, schon wieder eine Vorwärtsbewegung, die sich wie von selbst in seinem Körper gebildet.
Herr Hinrichs ärgerte sich. Wäre er doch nicht auf diesen Vortrag gegangen, so hätte er jetzt nicht die liebe Not sich mit dem Gesagten auseinanderzusetzen. Und was sollte das schon mit diesem blöden Ozonloch, dass doch keiner sah. Nun ja, so ganz stimmte das auch nicht, denn die anhaltenden Naturkatastrophen sprachen da ihre eigene Sprache. Aber vielleicht waren diese nur so präsent, weil man von allerorts damit konfrontiert wurde? Gab es nicht immer schon Erdbeben und Wasserfluten? Schließlich sind diese doch schon in der Bibel benannt.
Jetzt hörten sich die Schritte von Herrn Hinrichs schon richtig schwer an und ließen ein leichtes Trampeln erkennen, so ärgerte er sich über alles, was ihm nun durch den Kopf jagte. Wollte er sich damit Luft machen? Aber er wollte nicht abschweifen, also vergegenwärtigte er sich noch einmal den Gedanken einer Entwicklung. Wie sollte sich die Menschheit entwickeln? Nach vorwärts oder nach rückwärts? Und wie war das eigentlich mit so einer Entwicklung? Konnten wir diese nicht erst im Nachhinein beobachten? Und was hatte das zu bedeuten, wenn man alles nur im Nachhinein erkennen konnte? Und vor allem was erkannte man dann? Etwa das Gewesene oder das Gedachte? Ja was war es eigentlich was man dann dachte? War es nicht auch wieder etwas was sich nach vorne orientierte? Also in die Zukunft? Und war das dann nicht eher ein Glaube, da man doch nicht wissen konnte, was in der Zukunft sein würde?
Herr Hinrich setzte sich nun, um nicht noch hastiger zu werden. Er zwang sich ein kurzes Durchatmen ab. Und direkt noch einmal. Nein, er wollte sich keine weiteren Gedanken mehr machen. Er wollte Glauben und so wurde ihm unvermittelt bewusst, dass er bis zur Kirche gelaufen und nun vor Ihren Pforten saß. Er stand wieder auf und ging hinein, in dieses große Schiff und fand endlich die Ruhe die er suchte in den Hallen der Zeit, die nun still zu stehen schien.

Letzte Aktualisierung: 15.07.2016 - 19.35 Uhr
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