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Vermutungen | Juli 2016

Absolut nichts
von Sabine Esser

Marlies ist aufgeregt. Zum ersten Mal seit ihrem Rentenbeginn vor einem dreiviertel Jahr trifft sie sich mit ihren ehemaligen Kolleginnen in dem Bistro nahe der U-Bahn-Station, wo sie früher stets ihren Absacker genommen hatten. Sie verspätet sich absichtlich. Fast den ganzen Tag hat sie beim Friseur, bei der Kosmetikerin und im Nagelstudio verbracht. Ins Solarium geht sie sowieso. Sie verwuschelt ihre Haare.

„Tut mir leid, das Golftraining dauerte länger als geplant. Ich bin nicht 'mal zum Friseur gekommen“, entschuldigt sie sich hastig. Ein schneller Blick über den Tisch: Ja, die erste Flasche Prosecco ist schon leer.

Helga, ihre frühere Chefin, ist in den vielen Jahren fast eine Freundin geworden. „Conny und Susi. Anfängerinnen. Und schon angetüttelt“, registriert Marlies zufrieden.

„So gut wie du möchte ich es auch haben. Jeden Tag ausschlafen“, grinst Conny, ohne die Tipperei auf ihrem Smartphone zu unterbrechen.
„Und abends pünktlich ins Bett. Keine Überstunden mehr“, seufzt Helga und denkt an ihren Geschiedenen.
„Du hast es mit dem Vorruhestand schon richtig gemacht. Und außerdem: Keine Kinder, kein Mann heißt was, Mädels?“, haut Susi zusammenhanglos den rituellen Klopfer raus. Sie ist die jüngste in der Runde.
„Keine zusätzliche Arbeit“, brüllen die Vier und ordern die nächste Flasche.

„Mal im Ernst“, hakt Helga nach. „Wie geht es dir wirklich? Braungebrannt bist du ja. Und 'ne neue Frisur hast du auch. Steht dir übrigens gut.“
„Bestens! Besser könnte es gar nicht sein“, gibt Marlies an. „Habt ihr denn meine Karte von den Malediven nicht bekommen?“
„Hängt an der Pinnwand“, bestätigt Conny, checkt weiter ihre Mails und lässt Susi mitlesen.
Helga nippt ausdruckslos an ihrem Glas und wirft einen prüfenden Blick auf Marlies.

„Mal abgesehen von den Reisen, habe ich kaum Zeit, weil ich seit kurzem Golf spiele. Ihr glaubt gar nicht, wie gesund das ist. So ein Parcours dauert gut und gern vier Stunden. Und mein Handycap kann sich für die kurze Zeit, die ich dabei bin, durchaus sehen lassen. Immerhin Vierundzwanzig.“

Susi hört nur den Rest und prustet los: „Vierundzwanzig was? Männer?“
„Was du immer denkst“, mokiert sich Marlies geschmeichelt.
„Aber, wo wir von Männern reden … Mir kommt da was komisch vor in meinem Haus“, setzt sie an.
Susi kann es nicht lassen: „Oder vierundzwanzig Mal ein und derselbe?“
„Deswegen die neue Frisur“, juchzt Conny und legt ihr Smartphone beiseite.
„Wirklich, jetzt mal im Ernst. Bei mir im Erdgeschoss stimmt was nicht.“
Conny hat einen Lachflash: „Wieso Erdgeschoss? Ist er ein Fußfetischist? Meine ziehen die oberen Etagen vor!“
„Mittellage spart Energie“, keucht Susi mühsam. Vor Lachen bekommt sie kaum noch Luft.

Helga klopft an ihr Glas und bringt wie früher Ruhe in die Runde: „Nun lasst doch Marlies mal erzählen. Was ist so merkwürdig bei dir im Haus?“
„Keine Mittellage, nur Erdgeschoss“, explodieren Conny und Susi erneut und fallen sich japsend in die Arme.
„Das muss ich sofort posten“, greift Conny nach ihrem Smartphone.

„Ich bin ja nur selten zuhause, weil ich so viel auf dem Golfplatz oder auf Reisen bin“, wendet sich Marlies jetzt direkt an Helga:
„In der betreffenden Wohnung wohnt ein Peter Müller. Das weiß ich vom Tür- und Briefkastenschild. Er könnte genauso gut Michael Meier heißen. Das sind Allerweltsnamen, bestens für jede Tarnung.“
Conny und Susi stöhnen unisono: „Du bist in Rente! Nichts mehr mit Ermittlungen!“
Ungerührt fährt Marlies fort:
„Alle Fenster sind mit schwarzen Innenrollos versehen.“
„Was für eine Erkenntnis, und das im Erdgeschoss. Könnte ja jemand zugucken“, krümmen sich Conny und Susi.
„Die Rollos sind aber Tag und Nacht geschlossen“, beharrt Marlies.
„Der Briefkasten wird entweder geleert oder es kommt keine Post. Aus der Wohnung hört man gar nichts, keine Musik, keinen Fernseher, keinen Streit. Ich habe mich beim Bäcker und beim EDEKA erkundigt. Dort sagt man, niemand kenne den Typ. Er soll vor drei Monaten eingezogen sein. Mich stört, dass dort nie ein Fenster geöffnet wird und dass man so gar kein Lebenszeichen hört. Nicht mal die Klospülung, sagen die direkten Nachbarn. Die Wohnung scheint hermetisch dicht zu sein.“

Sie bestellt eine weitere Flasche, beugt sich vor und eröffnet: „Außerdem fällt überhaupt kein Müll an! Ich kontrolliere das täglich. Und die Miete wird regelmäßig überwiesen, ich habe den Vermieter mal so nebenbei befragt.“

Jetzt hören sogar Conny und Susi gespannt zu.
„Das steht dir überhaupt nicht zu! Du bist nicht mehr im Dienst“, schimpft Helga, räumt aber ein, dass die Beobachtung doch zu denken gibt.
Marlies erteilt Aufträge: „Ihr müsstet klären, ob ein Telefonanschluss existiert. Vermutlich nicht. Solche Typen haben Prepaid-Handies. Und eine detaillierte Kontenprüfung müsste vorgenommen werden. Von wem wird die Miete bezahlt? Stimmt der Name an der Tür überhaupt? Wer leert den Briefkasten? Der Hausmeister?“
„Ich finde, du gehst ein bisschen weit. Du weißt genau, dass wir dafür keinen Beschluss bekommen“, wiegelt Helga ab.
„Dann lasst wenigstens einen Sprengstoff- oder Drogenhund an der Tür schnüffeln. Ich habe kein gutes Gefühl bei dieser Wohnung“, insistiert Marlies.

„Du weißt genau, dass jeder Viecher-Einsatz dokumentiert werden muss“, mischt sich Conny ein. „Ich kenne aber einen …“
„Du kennst 'ne ganze Menge“, prustet Susi wieder los.
„Klappe. Ich kenne jedenfalls einen von den Hundeleuten. Der könnte sich ja mal beim Gassigehen verlaufen.“
„Davon weiß ich gar nichts“, stimmt Helga zu.
„Natürlich könnte ich Adresse und Name durch die Datenbank jagen, aber die Abfrage wird gespeichert. Ich setze doch nicht meinen Job auf’s Spiel für so einen vagen Verdacht“.
„Außerdem, wenn es um das geht, was ich denke, stimmt der Name sowieso nicht. Wer heißt schon Peter Müller“, mischt sich Conny ein. Ihr Jagdinstinkt ist geweckt.
„Vielleicht ist der Typ nur seit ein paar Monaten im Urlaub? Marlies war ja auch ganz schön lange weg. Wissen wir, mit wem?“, wagt sich Susi vor.

„Ich schwöre euch, das ist ein Drogendepot oder eine IS-Schläferwohnung“, beharrt Marlies.
„Wenn es Kindesmißbrauch oder –porno wäre, würde man vielleicht etwas hören. Obwohl, wenn die Wohnung schalldicht gemacht wurde …“, spekuliert Conny.
„Dann hätten die Nachbarn doch irgendwann mal jemanden kommen oder gehen sehen oder man hätte zumindest das Klo gehört“, hält Marlies dagegen.
„Die Toilette kann man durch ein Chemie-Klo ersetzen. Und wenn der Typ leise genug ist, bekommt niemand was mit. Auch deine Nachbarn nicht. Du bist ja sowieso fast nie zuhause“, kontert Conny.

„Hast du oder irgendjemand mal gehört, ob bei euch von Zeit zu Zeit ein unbekanntes Auto vorfährt oder parkt?“, unterbricht Helga den aufkommenden Streit.
„Definitiv nicht. Ich achte genau darauf und habe auch die Nachbarn schon befragt.“
„Bitte? Du kannst doch nicht ohne Grund deine Nachbarn befragen.“
„Kein Problem, die wissen doch, dass ich bei der Polizei bin“, antwortet Marlies.
„Im Gegenteil, die beobachten die Wohnung noch genauer als vorher.“
„Du bist nicht, du warst bei der Truppe“, korrigiert Helga energisch.
„Mit der Rente habe ich doch mein Gehirn nicht abgegeben“, empört sich Marlies.
„Nein natürlich nicht. Und deine Beobachtungen sind schon auffällig. Lassen wir erst mal Connies Bekannten mit seinem Hund dort Gassigehen, dann haben wir eventuell Handlungsbedarf. Heute können wir gar nichts mehr tun“, beruhigt Helga die aufgeregten Drei und verzieht sich auf die Toilette, um unbemerkt den Nachtdienst zu informieren.

„Wenn er aber doch ein Kinderschänder ist“, sorgt sich Conny mit feuchten Augen und leert ihr Glas: „Dem muss man doch sofort das Handwerk legen“.
„Genau“, schnieft Susi. „Denk mal bloß an den Belgier.“
Marlies tröstet beide: „Das ist mit Sicherheit ein Drogenring oder eine Schläferwohnung vom IS. Keine Sorge. Das hat nichts mit Kindern zu tun. Mein Bauchgefühl täuscht mich nie.“

Helga kommt zurück: „Damit hier Ruhe ist: Ich habe die Nachtschicht informiert. Wenn Zeit ist, werden sie mal nachschauen. Alles klar? Wo waren wir? Beim Handycap. Erzähl‘ doch mal, Marlies. Was ist das überhaupt? Und wieso musst du dafür vier Stunden laufen?“

Marlies versucht, zu antworten, wird aber von Connies und Susis Kreischen übertönt: „Handycap ist, wenn er nicht kann. Vierundzwanzig Mal nicht kann!“

„Mädels, nun reicht es aber“, weist Helga die Kicherliesen zurecht. „Wir wollen doch hören, was Marlies außer Golf und Reisen noch so macht.“
„Och, nichts weiter. Erzählt lieber mal was von euren aktuellen Fällen.“
„Dürfen wir nicht, weißt du doch“, bedauert Helga.

Conny beginnt mit dem Bürotratsch über die neue Sekretärin vom Chef, die soll was mit einem von ganz oben haben und nur deswegen habe sie die Stelle bekommen. Begierig stürzen sich die Drei auf das Thema. Marlies kennt die Neue nicht und kann nicht mitreden.

Stark angetrunken, müde und enttäuscht fährt sie mit dem Taxi spät nachts nach Hause. Das grelle Blaulicht lässt sie aufmerken. Sie bittet den Taxifahrer, Motor und Licht abzustellen und zu warten. Sie beoachten den Abtransport eines Sarges und den Einsatz der „Weißkittel“.

Marlies will nicht von den ehemaligen Kollegen gesehen und befragt werden, sie drückt sich tief in den Autositz.
„Hoffentlich hat Helga keine Details erzählt“, sorgt sie sich, während das Taxameter Euro auf Euro zusammentickt.

„Sie wohnen doch da. Haben Sie denn nichts bemerkt?“, fragt der Taxifahrer.
„Absolut nichts“, lügt Marlies, zahlt die horrende Summe und begibt sich zu ihrer kleinen Wohnung, die so sauber ist, dass sie nicht mal Zeit mit Putzen totschlagen kann.

Letzte Aktualisierung: 24.07.2016 - 09.56 Uhr
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