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Vermutungen | Juli 2016

Der Zeitbrunnen
von Andreas Schmeling

Der Zeitbrunnen ist irreal, es gibt ihn nicht. Oder doch? Wer weiß schon, was im Land der magischen Vermutungen, die Welt im Innersten zusammenhält?

Aus den steinernen Mäulern der mythischen Tierköpfe mit riesigen Augen, spitzen Ohren und messerscharfen Zähnen schossen gefächerten Fontänen aus Zeitflüssigkeit. Perlenkleine Tropfen umschlossen jeder nur ein paar Sekunden Zeit. Größere Wassermengen aus dem Zeitbrunnen beherbergten Tage, Monate oder sogar Jahre. Der Brunnen schöpfte aus einer schier unendlichen Äonenquelle, die bis tief in die Zeit gereicht haben wird. Sobald sich ein hervorgesprudelter Tropfen mit dem stillen Wasser im Bassin rund um den Brunnen vereinigte, entschwand die in ihm enthaltene Zeit. Glühwürmchengleich steigt sie in Form von kleinen Leuchterscheinungen gen Himmel. Bis in viele Kilometer Höhe trug eine unsichtbare Kraft die Lichtpunkte. Dort unten endete der langsame Aufstieg. Die LichtZeitElemente wirbelten kurz herum, als ob sie sich orientieren müssten und dann verschwand die Zeit blitzschnell in alle Richtungen. Die Leuchtspur verlosch in der Ferne und beleuchtete gleichzeitig im Jetzt und Hier den Zeitbrunnen.
Oben und unten, Zukunft und Vergangenheit besitzen am Zeitbrunnen keine Bedeutung. Nur der jetzige, der gegenwärtige Augenblick ist real. Aber was und wo ist die Gegenwart? Wandert sie auf einem Zeitstrahl dahin oder steht sie still und wird von der Zeit durchströmt?

Ist Zeit überhaupt etwas Lineares? Sie entwickelt sich nach unserer Wahrnehmung in eine Richtung, nämlich nach vorn (?) in Richtung Zukunft. Die Zeiteinheiten wiederholen sich, jede Sekunde, jeden Tag, jede Jahreszeit. Und mit den Einheiten wiederholen sich die Ereignisse, kehren aber nie so zurück, wie sie einmal waren.
Zeit ist konstant! Nein, sie ist relativ und außerdem sind Raum und Zeit miteinander auf ewig verwoben. Newtons Physik, unser Alltagserleben, beschreibt in Wirklichkeit nur einen rechnerischen Grenzfall der physikalischen Realität. Jede Berechnung von Raum und Zeit ist unvollständig, denn es gibt keine ruhenden und unveränderlichen Bezugssysteme. Niemand steht außerhalb des Universums und könnte solch ein ruhendes und geschlossenes System beobachten. Alles fließt, alles ist in Bewegung.

Raum- und Zeitangaben sind seit der Einsteinschen Relativitätstheorie keine universell gültigen Ordnungsstrukturen mehr. Das verwirrt uns und macht unsicher. Zwei Menschen, die ausreichend schnell unterwegs sind - und ausreichend schnell bedeutet hier: nahe der Lichtgeschwindigkeit - können beobachten, wie sich die Zeit dehnt und die Entfernungen sich kontrahieren. Was für merkwürdige und unfassbare Effekte! Wer mit Lichtgeschwindigkeit zu einem fernen Stern reist und dann zurückkäme, wäre weniger gealtert als sein Zwillingsbruder.
Raum und Zeit sind in den Grundgleichungen der Relativitätstheorie im Prinzip gleichwertig. Das Raum und Zeit auf so verschiedene Weise in Erscheinung treten, ist kein Grundgesetz der Physik, sondern eine Eigenheit der menschlichen Wahrnehmung.

Nicht nur Raum und Zeit sind innig und ewig verwoben, auch die Energie und die Masse lassen sich ineinander überführen. Dies geschieht rechnerisch durch die wohl berühmteste Gleichung in der Physik: E = mc²
Die Energie entspricht der Masse, wenn man diese mit dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit multipliziert. Diese Überführbarkeit von Masse in Energie bleibt in der klassischen Physik und damit auch im Alltag meist unbemerkt.
Durch die enorme Größe der Lichtgeschwindigkeit ergeben sich nur kleinste Masseänderungen bei den uns umgebenden Bedingungen. Ein Uranatom zerfällt bei der Kernspaltung in mehrere Bruchstücke, deren Massen zusammen ca. 0,1 % kleiner sind als der ursprüngliche Urankern. Diese Masse hat sich bei der Spaltung in Energie verwandelt. Verschwindend gering bei einem einzelnen Atom - eine Urgewalt, wenn die Spaltung massenhaft und gezielt gesteuert wird. Einstein hat die Atombombe nicht erfunden, sondern physikalisch berechenbar gemacht.

Auch die Gravitation spielt im undurchdringlichen Konglomerat aus Zeit, Raum, Masse und Energie eine bedeutende Rolle. Denn die Anziehungskräfte, die bei großen Massen auftreten, können das Licht ablenken. Große Massen verändern den Raum und die Zeit, wodurch das Licht scheinbar auf gekrümmten Bahnen durch das All jagt.

Aber worum handelt es sich bei Licht überhaupt? Ist es eine Energiewelle oder ein Strom an Teilchen. Oder ist es beides oder ist es beides nicht? Je nach Experiment verhält sich das Licht einmal wie ein Teilchen und einmal wie eine Welle. Erst die Quantenphysik kann diesen Welle-Teilchen-Dualismus ein wenig erklären. Aber die Erklärung ist komplex und kaum nachzuvollziehen, wie alles in der Quantenphysik.

Wenn E = mc² die bekannteste physikalische Gleichung ist, so ist Schrödingers Katze sicherlich das bekannteste physikalische Tier, wenn auch nur als Gedankenexperiment.
Schrödingers Katze sollte dazu dienen, die aus der Quantenmechanik bekannte „Überlagerung von Zuständen“ zu erklären. Die Katze wird dazu gedanklich in eine undurchsichtige Kiste gesteckt, zusammen mit einer Apparatur, die, gesteuert durch radioaktiven Zerfall, das Tier innerhalb von einer Stunde mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% tötet. Die Katze ist, nach der Quantentheorie so lange die Kiste geschlossen bleibt, gleichzeitig tot und lebendig. Erst wenn man die Kiste öffnet, manifestiert sich der Zustand in eine 100% lebendige oder 100% tote Katze.
Schrödinger wollte damit zeigen, dass die Übertragung von Phänomenen, die sich auf atomarer Ebene abspielen, nicht einfach in unseren Alltag übertragen werden können. Atome und kleinste Bestandteile der Materie wechselwirken eben anders mit der Umwelt als ganze Katzen.

Schrödingers unscharfe Gedankenkatze springt zu einer anderen diffizilen Theorie nach der das Universum und der ganze Rest aus Strings besteht: Aus unendlich kleinen, fädigen Objekten mit der Dimension Null. Diese Fäden sind ohne Ausdehnung in irgendeine Richtung. Die Grundidee der Stringtheorie ist eigentlich so simpel, dass jeder sie verstehen kann: Alle Materie und alle ihre Eigenschaften bestehen aus winzigen, schwingenden Fäden. Je nachdem, wie sich die Fäden zu größeren Einheiten zusammenschließen, erzeugen sie unterschiedliche Schwingungen. Die Vielfalt dieser Schwingungen erzeugt die Vielartigkeit der Teilchen und Kräfte im Universum – ähnlich wie die Schwingungen der Saiten einer Gitarre alle möglichen Töne und Melodien hervorbringen können.

Vielleicht besteht auch die Zeit letztendlich aus schwingenden Fäden. Wenn man das vermutet, wäre der Zeitbrunnen auf einmal gar nicht mehr so unmöglich und absurd, wie er eben noch erschien. Aus ihm quellen dann winzige Fäden, die sich mal zu Teilchen, mal zu Kräften und mal zu Äonen zusammenfügen.

Jedenfalls kann ich mir so einen sprudelnden Brunnen in meiner Phantasie vorstellen. Und allein dadurch existiert er schon. Denn in der Phantasie ist alles denk- und erschaffbar, auch wenn es nach den heutigen Erkenntnissen der Physik nicht existieren dürfte.

Letzte Aktualisierung: 12.07.2016 - 07.19 Uhr
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