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Vermutungen | Juli 2016

Vermutungen
von Thomas Gawehns

"Sie sind der Herr Stossel? Ihre Frau oder Gefährtin oder wie auch immer das heutzutage genannt wird, ist schon im Kreißsaal. Kommen Sie mal mit" meinte die Krankenschwester auf der Frauenstation. Aufgeregt folgte er.
"Zum Glück ist es ja nicht die erste Schwangerschaft, sonst könnten Sie das vermutlich gar nicht mit erleben."
"Bitte?"
"Über vierzig wird fasst immer Kaiserschnitt gemacht. Die Beckenknochen, Sie verstehen."
"Äh, ... hoffentlich wird mir nicht schlecht. Ich war noch nie dabei."
"Kennen wir, macht nichts. Hier ziehen sie den Kittel an, Hände waschen und dann hinein."
Wenig später war er neben ihr.
"Du bist ja tatsächlich noch rechtzeitig gekommen." begrüßte sie ihn. Mit einem Lächeln griff sie seine Hand und ließ diese auch nicht mehr los.
"Und nun kommt es gleich" meinte die Ärztin. Die Befehle "Hecheln" und "Pressen" kamen im Wechsel. Sybille tat wie ihr geheißen. Dazu stöhnte und schwitzte sie. Er bewunderte den Wechsel in ihrem Gesichtsausdruck. Da war nichts reserviertes, kontrolliertes mehr. Das hier war so ähnlich wie Sex, nur um einiges intensiver. Er war froh, dass er nicht mit ansehen musste, wie da am anderen Ende etwas herausgepresst wurde.
Die ganze Sybille schrie, unten wurde etwas geborgen. Es krähte ganz leise, dann wurde es in Tüchern von einer Schwester in den Nebenraum getragen.
"Gehen Sie nur mit, das machen alle Väter."
Im Nebenraum, nur durch einen Vorhang vom Kreißsaal getrennt, legte die Schwester den Kleinen in eine Wanne.
"Ist er nicht süss? Und alles dran, sehen Sie mal" die Schwester deutete auf den winzig kleinen Schniepel mit den Nüsschen. Er schaute mehr in das Gesicht des Kleinen. War er wirklich der Vater?

Ein kurzer Blick reichte und er war sicher.
"Der sieht mir doch tatsächlich ähnlich?" fragte er die Schwester.
"Immer die gleiche Frage. Immer die gleiche Antwort. Ja, wie aus dem Gesicht geschnitten" lachte diese. Sie trocknete den Kleinen ab, legte ihn in ein Handtuch und gab ihm das Bündel. "Vorsichtig das Köpfchen stützen. Bringen Sie ihn zur Mutter. Sie sollte sofort den Kontakt haben und gleich mit Stillen anfangen. Auch wenn da vermutlich noch gar nichts kommt."
Wie klein sein Köpfchen doch war! Vorsichtig trug er ihn zu Sybille.
"Unser Sohn" sagte er.
"Mein Sohn" antwortete sie und legte den Säugling an. Wie ein Saugnapf umschloss der kleine Mund die Spitze der Brustwarze. Es war auch sein Sohn! Aber bevor er seinen Standpunkt erklären konnte, wurden Mutter und Baby aus dem Kreißsaal geschoben. Der Vater folgte.

Als Lehrerin war sie privat versichert und hatte ein Einzelzimmer mit einer Krippe. Vermutlich sollten sich in solchen Räumen bürgerliche Kleinfamilien auf die gemeinsame Aufzucht des Nachwuchses einstellen.
"Es ist unser Sohn" bekräftigte er noch einmal. "Oder etwa doch nicht?"
"Schon, es war ausschliesslich dein Samen beteiligt. Du wirst uns zunächst häufig besuchen und Dich dann immer seltener sehen lassen. So schön es wäre, wenn da mehr wäre. Nein, nein. Das haben wir doch alles schon einmal erlebt. Es ist besser ich gewöhne mich an 'meinen Sohn'."
"Ich bin da anders. Wir sollten das wirklich ausprobieren und ihn gemeinsam groß ziehen. Also, ich tue nun wirklich alles für euch. Das wirst Du schon sehen. Bitte."
Sybille antwortete darauf gar nicht mehr. Sie war müde und kümmerte sich nur um ihr Baby. Da schien schon Milch zu fließen! Wie sollte sonst der kleine, weisse Tropfen in den Mundwinkel gekommen sein. Sybille genoß offensichtlich ihr Mutterglück. Ihre Wangen waren gerötet und sie stöhnte sogar leise.
Das war perfekt! Die beinden mussten nun seine Familie werden. An ihn sollte es nicht liegen. Obwohl sie ja mindestens fünf Jahre älter war. In diesen Zeiten sollte der Altersunterschied aber doch kein Problem mehr sein. Seine Beziehung zu Isabelle war in letzter Zeit eher eine Wohngemeinschaft als eine Lebensgemeinschaft. Warum musste seine langjährige Gefährtin auch für zwei Monate nach Polen? Da konnte er einer Frau wie Sybille doch gar nicht wider stehen. Isabelle verzieh ihm und auch Sybille bestand nicht auf eine Fortsetzung, so daß es schien, als war das nur eine Eskapade, aber so richtig schön wurde es nicht mehr.
Als er vor drei Monaten die schwangere Sybille traf, war er überrascht, wie attraktiv sie auf ihn wirkte. Mit Isabelle konnte er danach nichts mehr anfangen, so sehr er, und auch sie, sich bemühte. Wie sie auf Sybille fluchte, die ja nur von irgendwem ein Baby haben wollte.
Wer wollte nun eigentlich das Baby haben? Sybille hatte ja anscheinend schon eines. War da eine Tragödie passiert? Er schluckte. Wann sollte er diese Fragen stellen?
"Leg ihn in seine Krippe" sagte die Mutter.
Sie brauchte ihn!
"Sicher, klar. Aber willst Du ihn nicht bei Dir behalten. So mit Körperwärme und Hautkontakt und so?"
"Ich schlaf nun erst mal." Sybille drehte sich tatsächlich weg. Was war das nur für eine Mutter? Der Kleine! Der war auch müde. Jedenfalls waren die Äuglein geschlossen. Vorsichtig legte er das Bündel in die Krippe. Soll er es auf den Rücken oder auf dem Bauch legen? Er entschied sich für den Rücken. Am Ohr sah er genau die Muschel, die alle männlichen Stossels haben.

Kaum sass er auf seinem Besucherstuhl, wurde langsam die Türklinke heruntergedrückt und eine Krankenschwester schaute hinein. Sie ging leise zum Bett und zur Krippe, dann sagte sie leise: "Lassen Sie sie einfach schlafen. Kommen Sie."
Vor der Tür erklärte sie ihn: "Das war ja mal wieder eine Geburt ganz ohne Komplikationen. Kein Riss, kein Schnitt und troztdem kein Winzling. Die Mutter hat sogar schon Milch. In zwei, drei Stunden wird sich der Kleine wieder melden. Bis dahin ... Schlafen"
"Ah, wie? Riss? Schnitt? Winzling?"
Die Krankenschwester trat einen Schritt zurück: "Überlegen Sie doch mal." mit ihren Händen formte sie einen Kreis. "So groß ist das Köpfen, das durch das Becken der Mutter herausgepresst wird. Wenn das erste Kind da durch ist, kommen die nächsten immer ohne Probleme. Sie sind aber zum ersten Mal Vater, nicht wahr?"
"Ja." Er wusste nicht so richtig, wie er darauf antworten sollte.
"Kümmern Sie sich um die Wohnung, die Formulare und so weiter. Ruhen auch Sie sich aus. Seien Sie eine Hilfe! Das mit dem Stillen und so, ist nicht ihre Aufgabe. Noch nicht!" lachte sie.

Die Anweisung der Krankenschwester konnte er nicht umsetzen, da er zu Sybilles Wohnung keinen Schlüssel hatte. Betrinken wollte er sich zunächst, aber seine Kumpels waren in der Woche beschäftigt und alleine auf gut Glück in Kneipen zu versacken, fand er doof. So stand er dann nüchtern in seiner Küche. Er füllte Wasser in den Kessel und stellte diesen dann auf den Herd. Tee trinken schaffte immer einen klaren Geist. Er enschied sich für den weißen Tee, der süsslich schmeckte. Der Li hatte ihm eine Packung zu seinem 35ten Geburtstag aus Shanghai mitgebracht.
Wenig später kam Isabelle dazu und leistete ihm Gesellschaft. Er erzählte vom Kreißsaal, dem Schreien, seinem kleinen Sohn und wie ihn das alles emotional bewegt hatte. Nun war es sich ganz sicher, daß er ein Familienvater sein sollte. Sie würde das doch verstehen?
“So einfach hat diese Schnepfe das also gemacht: den liebsten Kerl der Welt mit ins Bett nehmen und nicht verhüten. Da kann ich ja nur gratulieren. Bekommt sie ihr Baby samt Mann dann doch noch.”
“Es ist ihr zweites Baby. Hat mir die Hebamme erklärt, weil die Geburt verlief so glatt, wie es bei einer ersten Geburt in ihrem Alter gar nicht möglich ist. Weil die Beckenknochen ja geweitet sein müssen. “ begeistert erklärte er von seinen neuen Erkenntnissen betreffs Becken und Babykopf.
Isabelle war zunächst sprachlos.
“Warum?” fragte sie leise. Dann lauter “Du hast nie etwas von einem Kind erzählt. Jedenfalls war doch nie eines in ihrer Wohnung. Oder warst Du da nur im Bett?”
“Da war nichts von einem Kind oder Familie oder so. Alles ganz nüchtern eingerichtet. Habe ich Dir ja schon von erzählt. Nur. Jetzt. In ihrem Arbeitszimmer habe ich ein recht großes Kinderbett gesehen. Ich dachte das wäre für das Kleine. Halt ein bisschen groß geraten, aber da würde es ja hineinwachsen. Das habe ich echt gedacht. Aber nun, die sind ja so klein. Das würde ja gar nicht gehen. Da hast Du es. Ihr erstes Kind schläft manchmal in dem Bettchen. Aber nicht immer. Jedenfalls nicht wenn ich mit ihr schlafe, dann sind wir, waren wir alleine in der Wohnung.”
Isabelle unterdrückte ihre Tränen. “Also das ist ja eine ganz schräge Geschichte. Da wird diese Schnepfe schwanger und jubelt dann die Kinder ihren Samenspendern unter. Und wenn sie Lust hat, kommen diese zu Besuch. Das der Vater das überhaupt mitmacht.”
Entschieden setzte sie zu: “Also mir kommt dein Nachwuchs nicht in die Wohnung. Das würde ich nie mitmachen. Dann wäre das wirklich zu Ende mit uns.”

Er lag die ganze Nacht wach neben seiner leicht schnarchenden Lebensgefährtin. Wie passte das zusammen? Diese Frage ließ ihn nicht los. Spielte der andere Vater eine Rolle? Offensichtlich ja, aber von ihm war nie die Rede. Nur das Kind kam wohl zu Besuch. Jedenfalls, wenn die Vermutung mit der gelegentlichen Übernachtung stimmte. Wenn aber die Vermutung nicht stimmte? War es das Bett, in dem das erste Kind gestorben war? Das könnte ja auch stimmen. Waren Sybilles Gene schlecht? Vernachlässigte sie ihre Babys? Wenig später hörte er wieder das gleichmässige, ruhige Schnarchen seiner vertrauten Isabelle. Er sagte sich, dass seine Gedanken ganz schön dramatisch waren und er endlich schlafen sollte. Aber dann war der andere Vater wieder ein Thema und es begann von neuem.

Am nächsten Morgen wollte er Klarheit. Sybille musste seine Fragen anhören und auch beantworten. Entschlossen öffnete er die Tür. Sybille war nicht zu sehen. Nur ein kleines, blondes Mädchen mit ungepflegten, langen Haaren stand neben der Krippe. Ihre Augen und Nase sahen Sybille ähnlich, aber solche eine Frisur würde sie doch nie dulden.
"Hallo, wer bist Du den? Wo ist Sybille? Was machst Du hier?"
"Ich passe auf Moritz auf. Das ist nämlich mein Onkel" grinste sie und zeigte ihren fehlenden, linken Eckzahn.

Letzte Aktualisierung: 22.07.2016 - 08.59 Uhr
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