Honigfalter
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Erinnerungen | August 2016
Bernd
von Anne Zeisig

“Ihr wisst, dass ihr nicht auf dem GelĂ€nder der Emscher-BrĂŒcke balancieren sollt!”, rief BĂ€rbel ihrem drei Jahre Ă€lteren Bruder Klaus und seinen Freunden zu, wĂ€hrend sie schnaufend hinter ihnen her lief.
Bernd hatte die Jungs bestimmt wieder zum Rennen veranlasst, damit sie nicht Schritt halten konnte.
Klaus sah sich um und verdrehte die Augen. Er schĂ€mte sich fĂŒr seine fette Schwester, die er wieder mitnehmen musste, weil Mutti etwas zu erledigen hatte.
“Na?”, foppte Bernd ihn wie so oft bereits, “biste wieder Babysitter fĂŒr Schweinchen Dick?”
Und wenn er seine Schwester wirklich realistisch betrachtete, so war diese Bezeichnung zutreffend.
Wie eine Dampfwalze kam sie vor ihnen zum Stehen und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß aus ihrem rosa Gesicht, die blonden, sehr feinen Haare klebten an Stirn und SchlĂ€fen.
“Peter soll da runterkommen!”, fauchte sie atemlos. “Wollt ihr, dass er in der BrĂŒhe ertrinkt?”
Der heiße Tag ließ den Asphalt weich werden, die Sonne flirrte ĂŒber der Straße, das metallene BrĂŒckengelĂ€nder flimmerte im gleißenden Licht und die Köttelbecke, ein offener Abwasserkanal, wie es ihn nur im Ruhrgebiet gab, stank bestialisch.
“Das GelĂ€nder ist zu schmal”, erklĂ€rte BĂ€rbel.
Ihr wurde ĂŒbel.
Vom Geruch?
Oder von der Tatsache, dass Peter auf dem schmalen GelĂ€nder unsicher einen Fuß vor den anderen setzte, die Arme seitlich ausgestreckt, um Gleichgewicht zu halten. Sie wandte ihren Kopf ab.
“Du bist ein MĂ€dchen.” Ihr Bruder lachte. “Und die haben keine Ahnung von Mutproben.”
“Dann geh doch auf den Spielplatz in den Sandkasten, Sandkuchen backen, anstatt uns zu nerven”, meinte Klaus, er war der grĂ¶ĂŸte und Ă€lteste.
“Ich bin doch nur hier, weil Mutti das will.” Nun lösten sich ein paar TrĂ€nen und kullerten ĂŒber BĂ€rbels Wangen. Sie schmeckten salzig.
“Außerdem hab ich Durst.” Wenn sie das sagte, ging ihr Bruder bestimmt mit ihr heim. BĂ€rbel zog ihren Bruder an den HosentrĂ€gern, welche die kurze, viel zu weite Hose, daran hinderte, herunter zu rutschen.
“Ich geh jetzt nicht mit dir nach Hause”, maulte der Bruder und zeigte zur BrĂŒcke, wo Peter erst ein Viertel der Strecke auf dem GelĂ€nder hinter sich gebracht hatte.
BĂ€rbel riskierte einen Blick und wandte sich sofort wieder ab, hatte aber in dem kurzen Moment gesehen, wie seine HĂ€nde an den ausgebreiteten Armen zitterten.
Peter wackelte unsicher hin und her. Klaus feuerte ihn an. “Knorke! Bist ja doch nicht son Angsthase, wie ich dachte!”
“Keine Ahnung, was du an Bernd gut findest”, zischte sie ihrem Bruder zu.
Der packte sie bei den Schultern und blickte ihr tief in die Augen. “Hör mal zu! Diese Mutprobe habe ich auch ĂŒberlebt. Und die da”, er zeigte auf drei Kumpels, die gelangweilt am BĂŒrgersteigrand saßen und auf Grashalmen kauten, “auch. Wir werden uns den Spaß nicht von dir verderben lassen.”
“Pah! Guck mal. Wenn mich nicht alles tĂ€uscht, hat Peter lĂ€ngst die Hosen voll. Aber du machst nur, was Bernd will!”
Klaus sah genauer hin. Er konnte nicht entdecken, dass Peter sich die Buchse vollgepinkelt hatte. Allerdings, das musste er zugeben, war diese auch sehr verdreckt und verschlissen. Bei acht Geschwistern musste halt jeder die Hosen vom VorgÀnger auftragen.
Sie waren wenigstens nur zu FĂŒnft. Trotzdem war seine Hose zu weit.
“Da wĂ€chst du rein”, hatte Mutti gesagt.

Ein VW-KĂ€fer kam die Straße hoch. Schnell formatierte sich die Jungen-Clique als Sichtschutz vor Peter, der nun leider auf dem GelĂ€nder in die Hocke gehen musste und löste sich ebenso flink wieder auf, als das Auto vorbei gefahren war.
BĂ€rbel beobachtete sehr genau, wie Peter hin und her wankte bei dem Versuch, sich wieder aufzurichten.
ZunĂ€chst hielt er seine Arme nach vorne, weil er nach hinten schwankte, dann seitlich und schließlich nach hinten, weil er vornĂŒber zu kippen drohte. Seine FĂŒĂŸe hatte er auf die Zehenspitzen gestellt und drehte sie auf dem schmalen Grat hin und her.
‘Das kann nicht gutgehen!’, dachte BĂ€rbel, sprang auf, machte einen Satz ĂŒber den Bordstein, ergriff Peters Bein und zerrte daran. “Runter!”, schrie sie wiederholt.
Der Junge machte einen Satz hinunter und landete auf dem Bordstein.
“Bist du verrĂŒckt?”, schrie er sie an. “Wegen dir wĂ€re ich beinahe in die Emscher geplumpst!”
“Jetzt hat Schweinchen Dick Peter die Mutprobe vermasselt”, stellte Bernd fest.
Der Blick ihres Bruders bohrte sich verachtend in ihre Augen.
BĂ€rbel holte tief, ganz tief Luft.
Sie baute sich vor dem Freund ihres Bruders auf, der mindestens doppelt so groß war wie die ZehnjĂ€hrige. Die anderen hatten sie inzwischen umringt.
“Hast du eigentlich schon deine Mutprobe gemacht?”, fragte sie ihn.
Das Schweigen der Jungen dröhnte laut in ihren Ohren. Aber eigentlich war es nur das Blut, welches mit Hochgeschwindigkeit durch ihre Adern rauschte und wie immer die verhasste Röte auf ihr Gesicht trieb.
Bernds Teint wechselte von einem sonnengebrĂ€unten zu einem eher grĂ€ulich blassen. Er begann zu stottern. “Ich. Äh. Neee. Also.”
“Mutprobe! Mutprobe!”, riefen die Freunde.
“Wetten, er ist ein Feigling”, flĂŒsterte BĂ€rbel ihrem Bruder zu. Der stieß sie von sich.
Bernds Hose verfÀrbte sich im Genitalbereich verdÀchtig dunkel. Der Urin trÀnkte seine Sandalen . . .

* * *

Der Enkel hat sich an Oma BĂ€rbels vollem Busen heimelig eingekuschelt. “Hat dieser Bernd die Mutprobe bestanden?”, fragt er.
“Ja”, antwortet sie nur kurz mit erstickter Stimme und wischt sich hastig die TrĂ€nen von den Wangen.
‘Manchmal ist es besser, sich nicht zu erinnern’, denkt sie und schalt sich, diese Geschichte erzĂ€hlt zu haben.
Aber alte Leute werden geschwÀtzig.


ENDversion

Letzte Aktualisierung: 24.08.2016 - 19.54 Uhr
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