Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Erinnerungen | August 2016
Tick-tack-tick-tack
von Bernd Kleber

Annelieses Augen funkelten leidenschaftlich, als sie von dem knusprigen Weißbrot sprach. Meine zweite Schwester schwärmte gerade von der kleinen zarten Pelle, die sich auf der abgekochten Frischmilch gebildet hatte und die sie vorsichtig anhob, um sie dann in den Mund gleiten zu lassen. Ich sah hin und her. Beide Schwestern waren so tief in ihren Erinnerungen verhaftet, dass sie gar nicht merkten, dass ich seit einiger Zeit nicht mehr am Gespräch teilnahm.
Ich kramte in meinem Hirn. Abgekochte Milch. Hausgemachter Zwiebelquark mit Schnittlauch, frisches knuspriges Weißbrot. Ich begann zu schwitzen. Aus meinen Nacken raste eine Hitzewelle über meine Glatze, klatschte wie ein Tsunami gegen meine Stirn, hinterließ dort kleine glitzernde Perlen und schwappte zurück den Körper hinab. Mein Rücken war klitschnass, mein Atem kurz. Beruhige dich! , dachte ich, beruhige dich doch mal!
Meine Schwestern kicherten und waren gerade mit herzförmigen Augen beim Pflaumenmus unserer Oma angekommen, was besonders lecker, dick und schwarz auf der weiß-gelben Butter und dem weichen Teig des Brotes schmeckte. Beatrice meinte nun, sie hätte nie verstanden, wo das Geschick unserer Mutter herkam, dass das Gelbe im Ei tatsächlich wachsweich war, während das Weiße schon fest. Sie würde nie solche Eier hinbekommen. Anneliese lachte und meinte, das Abschrecken müsse auch gekonnt sein, sonst wolle sie manchmal am liebsten das Ei an die Wand pfeffern. Manchmal fordere sie ihren Mann auf, noch zur Sicherheit in den Eier-Topf zu blicken. Abschrecken! Beide schüttelten sich vor Lachen. Mir war schlecht….
Wenige Wochen zuvor hatten wir auf hoher See zugesehen, wie die Urne meiner Mutter zu Wasser gelassen wurde. Es war so stürmisch, dass das Schiff mit dem ironischen Namen „Kehr wieder“ nur eine, statt der üblichen drei Runden um den Blumenkranz des Aschegefäßes drehte. Wir hatten Mühe beim Schaukeln, nicht den Halt an der Reling zu verlieren. Stürmische See für eine bis zum Schluss sehr temperamentvolle Frau. Als wären alle Meeresgeister zur Begrüßung gekommen. Der Himmel hatte preußisch blau gestrahlt, die Wolken federgleich weiß sich angeschmiegt an den weiten Himmel. Die Wellen waren laut an den Schiffsrumpf geklatscht und aus dem blechern klingenden Lautsprecher sang Hilde:

„… Gib mir noch einmal den Strand meiner Kindheit,
mit Muscheln und Bernstein auf trockenem Weiß.
Gib mir den salzigen Wind meiner Ostsee,
das Jammern der Möwe, die hoffnungsvoll kreist.

Gib mir die Molen mit moosgrünen Beinen und Wellen,
die singen ihr endloses Lied. …“*


Und so weiter, als wäre es für unsere Mutter geschrieben worden. Und ich hatte dieses Lied, welches mir seitdem unweigerlich Tränen in die Augen treibt, nur zufällig entdeckt, hatte es nie zuvor gehört. Manchmal passieren im Leben Dinge, da glaubt man den großen Dirigenten, der alles lenkt… einfach so, weise und gerecht. Unsere Mutter war fort… unwiederbringlich und nun klammerten wir uns an die schönen Erinnerungen, die sie zurückgelassen hatte. Einen Film nach dem anderen entfachten wir im Kopfkino der eigenen Vita, glichen die Farben ab, die Empfindungen, wie Pauspapier mit „…weißt´e noch dies…“ und „…erinnerst du Dich an das…“ und „…Jesses, war das immer schön…“.
So saßen wir hier bei einem gemeinsamen Frühstück, neudeutsch ja eher brunchen genannt, und ich wunderte mich über die Ausgelassenheit meiner Schwestern. Ohne jede Trübsal unterhielten sie sich seit einiger Zeit mit immer neuen Anekdoten über die herrlichen Frühstücks-Morgen an den Sonntagen unserer Kindheit. Sie hatten mich daran erinnert, dass in damaliger Zeit unsere Mutter noch sonnabends arbeitete, während wir die Schule besuchten.
An diesen Samstagen, der Klassenraum hatte seine Fenster zur Straße, hörten wir schmunzelnd das Radioprogramm des Feindsenders über die kleine schmale Straße in Berlin-Weißensee. Jemand schien seine Wohnung zu putzen und wurde begleitet von der beliebten Sendung Evergreens à Go-Go mit dem Starmoderator Lord Knud.
Wir feixten, wenn der Lehrer mit rotem Kopf zum Fenster lief, und die Hand am Fensterknauf haltend, überlegte, ob man bei der Hitze dieses schließen konnte. Disco im Unterricht! Niemand ahnte, dass irgendwann, ca. 20 Jahre später, die Mauer fallen würde. Wir waren mitten im sogenannten Kalten Krieg. Während ich meinem Schulfreund durch die Bankreihen bedeutete, dass ich den Song „Mister Postman“, von den „Carpenters“ gecovert, besonders mochte…. Das waren Zeiten!
Ich erinnerte mich auch daran, wie albern die Politik manchmal agierte. Auf dem Schulweg kamen wir immer am „Schwarzen Adler“ vorbei, der alten Berliner Eckkneipe. Eines Tages wurde der Adler über der Tür gegen einen weißen Elefanten ausgetauscht. Der Vater meines Schulfreundes meinte: „Die drehen durch, die Roten, jetzt haben sie schon was gegen den alten Pleitegeier!“, ich verstand es damals nicht. Heute muss ich darüber schmunzeln. Ich bin alt geworden.
Sonntagsfrühstück also, diese schienen legendär bei meinen Schwestern. Inzwischen war ich sicher, ich sollte einen Arzt aufsuchen, einen Test machen zu lassen, Alzheimer… so etwas gibt es doch? Mich ergriff bei dem Gedanken, mehr schöne Erinnerungen zu vergessen und eines Tages nicht einmal mehr meine Schwestern zu erkennen, tiefe Traurigkeit und Panik.
Beatrice sprach von leckeren Radieschen, die sie sich immer in Scheiben aufs Brot schnitt und mit Salz und Pfeffer bestreute. Die nächste Hitzewelle raste heran, entfacht durch meine innere Unruhe geradezu wie eine Naturkatastrophe. Nicht aufzuhalten! Panik! Nur nichts anmerken lassen. Ich stand auf und schlich mich zur Toilette.
Schnaufend saß ich auf der Kloschüssel und hörte die vertrauten Stimmen meiner Schwestern weit entfernt. Mit dem Toilettenpapier wischte ich vorsichtig den Schweiß im Nacken. Ich tupfte. Keine Papierkrümel sollten zurückbleiben.
Wieso… wieso konnte ich mich nicht an unsere Frühstücke erinnern. Ich wusste, meine Mutter zelebrierte unsere Mahlzeiten rituell als etwas Gemeinsames. Es gab immer fantasievolle Speisen. Es wurde nie langweilig. Nie gab es Mahlzeiten, die jemandem von uns nicht schmeckten. Aßen alle Kartoffelpuffer, machte sie für mich Eierkuchen. Und ich erinnerte mich auch an unsere Abendbrotzeiten. Punkt Sechs hieß es vom Spielen nach oben zu gehen. Wir wohnten zwischen zwei großen Kirchen. Beide, die Evangelische und die Katholische, nur 500 Meter voneinander entfernt, schlugen im Wettstreit täglich um Sechs das Geläut an, ohrenbetäubend und unüberhörbar. Wie eine Bastion um den „Weißen Elefanten“. Und trotzdem war es einige wenige Male, während besonders spannender oder interessanter Abenteuer passiert, dass wir das Läuten verpasst hatten. Das gab Riesenärger, wenn wir später kamen, und meine Mutter uns am gedeckten Abendbrottisch um 18:30 empfing. Sie war eine Alleinerziehende und regierte mit eisernen Regeln.
Aber wieso, zum Teufel, habe ich keine Erinnerung an die Frühstücke. Hatte mein Gehirn ein Loch und alle Erinnerungen vor 13 Uhr komplett gelöscht. Nein… die Samstagmorgen in der Schule mit Lord Knud waren ja noch da. Ich musste meine Schwestern ansprechen. Sie sollten mir erklären, warum das Frühstück am Sonntag bei mir keinen Eindruck hinterlassen hatte, obwohl ich den Zwiebelquark meiner Mutter auch sehr geliebt hatte.
Ich schlurfte etwas akklimatisiert wieder in das Wohnzimmer, wo meine Schwestern mich erwartungsvoll ansahen. Wie lange hatte ich im Bad pausiert?
„Du siehst blass aus Rainer“, sagte Beatrice. Ich setzte mich leicht schnaufend. Holte tief Luft, einmal, noch mal… Anneliese meinte, ich solle mal einen Schluck Wasser trinken, ob mich denn die Trauer übermanne?
Da polterte ich heraus: „Kann mir mal jemand verraten, wieso ich nicht diese schönen Erinnerungen an das Sonntagsfrühstück habe? Ich bin fast eifersüchtig auf eure Erzählungen und habe Angst, mein Hirn spielt mir Streiche.“
Beide Schwestern sahen erst sich, dann mich an. Die Gesichtszüge verrieten eine gewisse Überlegenheit. Ich wurde sehr ungeduldig und knirschte fast mit den Zähnen. Tick-tack-tick-tack ...
Beatrice lächelte: „Du hast so lange geschlafen, erst zum Mittag hat dich unsere Mutter geweckt. Du bist wie ein Faultier aus dem Bett gekrochen, wenn das Essen auf dem Tisch stand. Mutter musste dich ermahnen, wenigstens die Zähne zu putzen. Da war für uns der halbe Tag schon rum.“
Wir lachten alle drei. Und ich war sehr glücklich.

* OSTSEELIED ; Charly Niessen / Hildegard Knef

Letzte Aktualisierung: 22.08.2016 - 19.42 Uhr
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