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Erinnerungen | August 2016
Cuja Mara tötet das Split
von Jochen Ruscheweyh

Cuja Mara Split, das klingt nicht nur verkehrt, es fühlt sich auch so an, als sich Vanille und Maracuja auf meiner Zunge trennen. Ich schließe die Augen und konzentriere mich, versuche mir das Orangenaroma des ursprünglichen Langnese Split vorzustellen.
Es zu schmecken.
Je länger ich es probiere, desto realer wird es.
Mit der Orange kommt die Erinnerung zurück an den Sommer 1978. Und an den Tag, an dem ich Tim umgebracht habe.

Es hat geregnet. Man kann die Regentropfen auf dem Bürgersteig verdunsten sehen, in den Himmel aufsteigen. Wie im Religionsunterricht mit Jesus und dem Heiligen Geist.
Es riecht immer noch leicht nach Teer, obwohl die Straße so viele Löcher hat, dass sie wahrscheinlich das letzte Mal vor Jahren asphaltiert worden ist. Der Dunst und die Wärme machen das Atmen schwer.
Ich rede nicht viel, dafür Tim.
Er ist zwei Jahre älter als Daniel, Stefan und ich. Daniel und Stefan sind wie jedes Jahr in der zweiten Ferienhälfte mit ihren Eltern auf Föhr.
Ich will nicht mit Tim ins Schwimmbad gehen, weil ich Angst vor ihm habe.
Wenn Daniel und Stefan dabei sind, ist er anders.
Wenn wir alleine sind, weiß ich nie, was Tim als nächstes macht.
Aber er hat geklingelt und meine Mutter hat ihn reingelassen. Wenn ich nicht mit ihm gehe, kann es gut sein, dass er mich wieder irgendwo abfängt und zu einer Mutprobe zwingt.
Meine Mutter meint, Tim ist anständig, weil er sie grüßt, wenn er ihr entgegenkommt, wenn sie einkaufen geht und weil er ihr schon mal die Tür bei der Post aufgehalten hat.
Was meine Mutter nicht weiß: Tim findet nichts dabei, unsere Wäschetruhe zu öffnen und ihre Büstenhalter rauszunehmen, wenn wir bei mir Kampfkreisel oder Monopoly spielen und meine Mutter mal kurz in den Keller geht, um uns Aquella-Cola zu holen.
Mein Vater weiß nicht, wer Tim ist, ist sich aber sicher, dass sein Vater ihm auch keine Holzpfeile mit Metallspitze zum Bogenschießen im Spielwarenladen kaufen würde.
In einigem Abstand gehen drei Mädchen hinter uns.
Ich höre sie lachen, drehe mich kurz um.
Sie sind älter als ich, auch als Tim und tragen Sporttaschen. Wahrscheinlich, weil sie auch ins Freibad wollen.
Tim drängt, dass wir uns beeilen sollen.
Ich frage wieso.
Tim haut mir gegen den Hinterkopf und sagt, dass er mit einer von ihnen schon gegangen wäre.
Wir laufen schneller, bis die Straße einen Knick macht.
Direkt hinter dem Knick presst sich Tim mit dem Rücken gegen die Mauer und zieht mich in dieselbe Position.
Ich frage, warum. Diesmal rammt er mir sein Knie in den Oberschenkel und meint, wie blöd ich denn bin, damit sie uns nicht sehen, natürlich.
Langsam beugt er sich vor und schaut um die Ecke, zieht seinen Kopf aber sofort wieder zurück, stülpt die Unterlippe vor und bläst an seinem Gesicht aufwärts, dass eine seiner blonden Locken, die ihm in die Stirn hängt, wackelt.
Ich würde am liebsten sagen, dass ich das albern finde, weil die Mädchen viel zu alt für Tim sind, aber ich weiß nicht, was Tim dann macht.
Er nimmt eine Bürste aus der Po-Tasche seiner Jeans, klopft sie kurz gegen seinen Unterarm und steckt sie wieder in die Hosentasche. Eigentlich habe ihn noch nie seine Haare kämmen sehen, obwohl er immer eine Bürste bei hat.
Dann sagt er, dass ich froh sein kann, weil sie ja nicht hinter mir her sind, sondern hinter ihm.
Auch wenn ich weiß, dass das nicht wahr ist, finde ich es gemein, dass er es sagt.
Tim guckt noch einmal um die Ecke. Dann grinst er, packt und zieht mich rum, schubst mich. Ich stolpere rückwärts auf die Straße.
In der Bewegung höre ich ihn „Ey, der will was von euch!“ rufen.
Ich bleibe mit den Füßen aneinander hängen, falle auf mein Steißbein und ticke zusätzlich noch mit dem Hinterkopf auf das Pflaster. Mir wird schlecht, weil es so weh tut.
Verschwommen sehe ich, die Mädchen folgen nicht der Kurve sondern nehmen die Abkürzung zwischen den Büschen entlang. Eine von ihnen - ihre Hose ist unten am Schlag an beiden Seiten mit einem Saum aus der Amerika-Flagge verlängert - dreht sich noch kurz um und meint, Spastis wie wir sollten nicht frei rumlaufen.
Ich spüre meine Beine kaum, als ich mich aufzusetzen versuche.
Tim ist schon bei mir. Anstatt mir zu helfen, hat er mein Goofy-Portemonnaie aus meiner Tasche gezogen und hält mein Fünfmarkstück hoch.
Es ist ein dreckiges Lachen, als er sagt, er findet es stark, dass ich uns Eis ausgeben will und läuft vor zur Bude.
Ich kann nur kleine Schritte machen, weil mein Steißbein so weh tut. Er kommt mir schließlich auf halbem Weg entgegen und wirft mir ein Split zu, während er für sich ein übergroßes Cornetto von meinem Geld geholt hat. Den Rest behält er, weil ich ihn – wie er sagt – vor den Mädchen blamiert habe.
Ich antworte, dass ich dann nicht ins Freibad gehen kann, weil ich kein Geld mehr habe, aber Tim kennt ein Loch im Zaun, durch das ich klettern soll. Ich frage, ob er auch dadurch geht. Er meint, nein, weil er hat ja Geld.
Orange und Vanille trennen sich auf meiner Zunge, als Tim beschließt, dass wir über das stillgelegte Fabrikgelände gehen, an dessen Eingängen überall Schilder mit der Aufschrift „Zutritt verboten!“ stehen.
Ich weiß, was jetzt kommt.
Orange und Vanille schmecken augenblicklich bitter.

Im ersten Stock der Saxania-Fabrik ist die Decke halb eingestürzt. Tim sagt, er weiß einen Weg in den Stock darüber, und wenn ich nicht mitkomme, dann sagt er den Wagner-Brüdern, dass ich ihre kleine Schwester begrapscht hätte. Ich habe, nein, eigentlich jeder auf meiner Schule hat Angst vor den Wagner-Brüdern, die Wychester-Zigaretten rauchen und Fahrräder klauen, in Schrebergärten einbrechen und sich mit Leuten aus Hörde prügeln. Tim geht auf eine andere Schule, wo man oft frei hat und die überhaupt viel besser ist als unsere. Weil, wenn man keine Lust hat, muss man nicht hin.
Tim geht oft nicht hin.
Ich folge ihm an den Absperrungen vorbei.
Wir müssen an einer Leiter an der Wand hochklettern, die nach rostigem Metall riecht. Tim ruft zu mir runter, dass sich abends auf dem Spielplatz in unserer Siedlung asiatische Frauen treffen, die mit rostigen Eisenstangen KungFu-Übungen machen und dass die brutaler als Bruce Lee zuschlagen.
Er klettert schneller als ich.
Als er oben ist, sehe ich ihn an seiner Hose fummeln. Dann pinkelt er auf mich.
Ich schreie, obwohl, es ist eher ein Quieken.
Tim lacht, dass ich jetzt getauft bin und dass mir bloß nicht einfallen soll, runterzuklettern und abzuhauen. Nass, wie ich bin, steige ich weiter hoch.
Tim packt seinen Pimmel ein und zieht den Reißverschluss hoch. Dann will er wissen, ob ich meinen schon mal in eine reingesteckt hab.
Ich schüttele den Kopf.
Er sagt, dass er es immer mit meiner Mutter macht, wenn mein Vater und ich nicht da sind.
Ich sage, dass das nicht stimmt.
Er sagt, er hockt dann wie ein Hund hinter ihr.
Ich sage, dass er lügt.
Er boxt mir in den Bauch. Ich breche das Eis aus.
Er sagt, beim nächsten Mal schiebt er einen Gruß von mir mit rein.
Ich sage, dass mein Vater ihn anzeigt, wenn er das mit meiner Mutter macht.
Er sagt, dass mein Vater sich doch schon durch die ganze Siedlung gebumst hat.
Ohne darüber nachzudenken, wie es weitergeht, laufe ich auf Tim zu und gebe ihm einen Stoß.
Ich erschrecke mich, dass ich das getan habe, als ich sehe, wie er das Gleichgewicht verliert, mit den Armen rudert. Es knirscht und der Boden gibt nach. Er versinkt, fällt durch die Decke.
Ist einfach weg.


Das Cuja Mara Split läuft an meiner Hand runter.
Ich habe es mir so oft vorgestellt.
Und mit jedem Mal ist das Ende realer geworden, aber nicht so, dass es tatsächlich wirklich werden würde.
Denn ich bin es gewesen, der damals durch die Decke gefallen ist, als Tim mich zum Schluss noch geschubst hat. Ich habe lange im Krankenhaus gelegen, das Laufen neu lernen müssen und viel Metall eingesetzt und wieder herausgenommen bekommen.
Als Kind, das ich damals gewesen bin, hat man mir geglaubt, dass ich mich an nichts erinnere, außer dass ich nochmal umgekehrt bin und ohne Tim einen Mann auf dem Weg getroffen habe, der ein Stück mit mir gegangen ist. Der klassische böse Onkel, vor dem die Aufklärungsbroschüren der Polizei in jedem Lottogeschäft gewarnt haben. Und dann wüsste ich nichts mehr, nur dass er mich in die Fabrik gelockt hat und wie ich hinterher blutüberströmt rausgekrochen bin.
Tim habe ich nie verraten. Er ist kurze Zeit später ins Heim gekommen, hauptsächlich wohl wegen seiner Schwänzerei. Ich habe ihn viele Jahre später noch einmal gesehen, auf einem Schrebergartenfest. Er trug eine Lederjacke und ein ausgewaschenes Kiss-T-Shirt und sah mächtig gelb im Gesicht aus. Und war so betrunken, dass er sich mit einem Pappaufsteller in Hundeform unterhalten hat. Ich gehe davon aus, dass er sich inzwischen totgesoffen hat.
Trotzdem, wenn ich an diesen Tag im Sommer 1978 zurückdenke, wünsche ich mir immer noch, ich hätte ihn gestoßen.
Cuja Mara tötet das Split, und Jochen tötet Tim.

Letzte Aktualisierung: 25.08.2016 - 07.30 Uhr
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