Mainhattan Moments
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Erinnerungen | August 2016
Wenn der Vogel singt
von Monika Heil

Erst wenn der Vogel singt, schaut sie nach draußen. Am Tag singen keine Vögel mehr vor diesem Haus. Nur ein paar KrĂ€hen krĂ€chzen ihre monotonen Melodien auf dem blattlosen Baum vor ihrem Fenster. Niemand hört sie. Der StraßenlĂ€rm ĂŒbertönt alles.

Sie sitzt am Fenster und wartet auf die Nacht. Seit Jahren sitzt sie dort und wartet vergeblich auf den Gesang der Vögel am Tag. Sie kennt deren Klang aus ihrer Kindheit. Damals breiteten sich ausgedehnte Felder hinter dem GemĂŒsegarten ihrer Mutter aus. Dahinter neigte sich das reife Korn im Wind. Am Ackerrand leuchtete Klatschmohn – rote Male. Kornblumen – blaue Konkurrenz zum Himmel. Margeriten in strahlend weißem Kleid. Sie sah das alles – frĂŒher. Und die Vögel sangen auch am Tag. In ihrer Erinnerung ist das fröhliche Gezwitscher noch prĂ€sent, ebenso die Buntheit der Natur.

Dann kamen die Investoren mit ihren Versprechen. Sie stießen auf offene Ohren bei den örtlichen Kommunalpolitikern. Und sie weckten Begehrlichkeiten bei den Einwohnern des kleinen Dorfes. Der Änderung des FlĂ€chennutzungsplanes stimmten alle Parteien zu. Alle. Einstimmig. Bald darauf stellten sie großzĂŒgige BebauungsplĂ€ne auf. Die Investoren klatschten Beifall. Die Landbesitzer freuten sich ĂŒber gute GrundstĂŒckspreise, die sie erzielen konnten.

Sie sitzt am Fenster und wartet, dass der Tag vergeht. Die Straße lĂ€rmt vor dem Haus. Ein Krankenwagen stĂ¶ĂŸt Signale aus. Sie erschrickt. Seit sieben Jahren erschrickt sie, sobald sie den Klang des Martinshorns hört. Sofort ist die Erinnerung prĂ€sent. Die Klinik liegt ganz in der NĂ€he. Manchmal muss sie jenen Tag vor sieben Jahren tĂ€glich erleiden. Ihr GedĂ€chtnis kennt keine Gnade. Es war der Tag, der ihr Leben verdunkelte. FĂŒr immer.

Manchmal glaubt sie, Kinderlachen zu hören, kann sogar einzelne Stimmen unterscheiden. Uwe. Hanspeter. Birgit. Wo kommt das her?, fragt sie sich irritiert. Dann fĂ€llt es ihr ein. Es kommt von dem Bach, der frĂŒher zwischen den Wiesen floss. Irgendwann wurde er begradigt, fiel trocken.
Was aus den Freunden wurde, weiß sie nicht.

Ihr Vater hatte sie gelehrt, Vogelstimmen zu unterscheiden. Wie oft hatten sie nach Einbruch der DĂ€mmerung auf der Bank vor ihrem Haus gesessen. Vater, Mutter und das Kind. Dann wurde sie erwachsen. Die Eltern verkauften das Haus.

Die Bank gibt es nicht mehr. Das Haus auch nicht. Die GrundstĂŒckspreise rechtfertigen kein Einfamilienhaus an dieser Stelle. Es musste Wohnblocks weichen. Siebenstöckig.
Ein schmaler Streifen vor der TĂŒr nennt sich Vorgarten. Ein schmĂ€chtiger Baum, mĂŒrrische StrĂ€ucher, grau-grĂŒnes Gras, Hundekot. All das kann sie nicht mehr sehen.

Die Eltern hatten es gut gemeint. Man weiß nie, was die Zukunft bringt, erklĂ€rten sie. Bald darauf starben beide. Im Abstand von sechs Monaten.


Nachts liegt sie wach am offenen Fenster. Oder schlĂ€ft einen unruhigen Schlaf bis vier Uhr morgens. Um vier Uhr morgens ist es so weit. Den ganzen Sommer lang. Wenn dann der erste Vogel singt, schaut sie nach draußen in die Dunkelheit, die seit sieben Jahren nicht weicht, weder am Tag noch bei Nacht.

Morgens um vier ist sie fĂŒr einen Moment glĂŒcklich.

Letzte Aktualisierung: 06.08.2016 - 13.38 Uhr
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