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Erinnerungen | August 2016
500 Yards
von Klaus Freise

Ich atme. Hektisch und impulsiv. Ich will leben. Alles um mich schrumpft auf ein Minimum an Wahrnehmung zusammen. Reduziert auf reine Funktion. Das, was ich gelernt habe. Ich bin das, was man mich gelehrt hat. Ein Soldat.
Dann beginnt für mich der Krieg. Am 6. Juni 1944.
Die Rampe fällt klatschend auf das Wasser.
"Nicht stehen bleiben. Keine Gruppen bilden. Meidet die Krater. Bleibt in Bewegung. Es sind 500 Yards zum Ende des Strandes. Jetzt raus mit euch."
Nach der kurzen Ansprache wird Sergeant Holloway in eine rote Dunstwolke eingehüllt.
Ich fange an zu laufen. Meine Stiefel stampfen über das raue Stahlblech. Das Herz rast, ich atme Salzwasserregen. Geschosse pfeifen durch den Dunst. Die Ohren scheinen bei jeder Detonation zu platzen. Atlantikfontänen hüllen mich ein. Das Boot neben uns zerplatzt in einem Feuerball. Fauchend prasseln Metallteile gegen die Außenwand. Schreie, kreischendes Metall. Kugeln, die auf Eisen und Körper treffen.
Ich kralle mich an meinen Verstand, versuche die Bilder auszublenden. Verdränge die Hölle für einen kurzen Moment Klarheit.

Ich laufe barfuß über unseren Rasen, auf den Mississippi zu. Er bildet hinter unserem Haus eine kleine Bucht. Dort am Bootssteg steht mein Baum. Eine Trauerweide, höher als unser Haus. An ihr hängt ein langes Tau, mein Ziel. Hinter mir ruft meine Mutter:
"William, du bist doch noch im Schlafanzug, komm jetzt erst frühstücken."
Aber ich renne auf den Steg, greife das Seil, schwinge mich über den Fluss und rufe:
"Guten Morgen, Mississippi." Das tue ich immer in den Ferien. Dann schwinge ich wieder über den Steg, lasse mich fallen und...

...ertrinke, ich werde nicht von einer Kugel oder Granate getroffen, nein, ich werde ertrinken.
Mein Sprung von der Rampe stürzt mich bis zum Kopf in die Brandung. Waffe und Ausrüstung ziehen mich in die Tiefe. Meine Füße strampeln hilflos, bis sie den Grund berühren. Ich reiße alle Gurte von mir, lasse die Waffe los, rudere mich mit den Armen nach oben und kehre zurück an die Oberfläche des Krieges.
Auf Händen und Knien robbe ich an den Strand. Jetzt sind die Granatfontänen aus Sand und Matsch. Ich erkenne kaum die Linie, wo die Dünen beginnen. An einer Panzerbarrikade aus Eisenträgern ziehe ich mich mühsam hoch, versuche Luft zu bekommen.
Gerade als ich die nächste Stahlsperre anpeile, um Deckung zu suchen, reißt eine Faust mich von den Beinen, treibt mir das letzte bisschen Luft aus den Lungen.
Ich stürze mit dem Rücken und Hinterkopf auf den nassen Sand.

"Mein Gott William, wir dachten du bist tot." Becky Summers hat sich über mich gebeugt. In ihren aufgerissenen Augen schwimmen Tränen. Ich ringe nach Atem, hebe eine Hand. In der halte ich ein Stück Seil. Über Becky baumelt das abgerissene Ende von unserem Baumhaus herab. Aus der Luke glotzt Tom auf uns herab. Er ist sehr blass um die Nase und keucht erleichtert:
"Mann William, du hast vielleicht einen Salto gedreht. Alles okay?"
Becky beugt sich tiefer, ihre Hand berührt mein Gesicht und...

... schlägt mich. Erst links, dann rechts. Das Gesicht eines Soldaten. Ein Sanitäter.
Sein Mund bewegt sich, aber in meinen Ohren pfeift noch der Tod. Langsam dringt seine Stimme zu mir durch:
"Sie sind okay. Ihnen fehlt nichts. Alles noch dran. Sie haben Glück gehabt."
Das ist also Glück.
Er hat kein Glück. Seine Augen starren an mir vorbei, werden blass und kalt. Er sinkt auf mich. Blut tropft in mein Gesicht. Ich schreie, strample, schlage um mich und wälze mich auf die Knie. Dabei greife ich in weiche, warme Masse. Ich starre meine Hand an, schüttele das Blut ab.
Vergiss die Bilder, behalte den Verstand. Mein Verstand schreit. Mein Blut pocht in meinen Ohren und ich springe auf.
Dann laufe ich, der Sand spritzt unter meinen Stiefeln, und meine Lungen pumpen, ich will ans Ziel. Ich muss das Ziel erreichen.

Tom keucht neben mir, ich spüre seinen Atem an der Schulter. Die Aschebahn wird immer schmaler. Er ist Jahrgangsbester, spielt als Quarterback. Meine Lungen drohen zu bersten. Ich sehe seine Hand rhythmisch vor und zurück pendeln, er hat seinen Rhythmus gefunden. Aus den Augenwinkeln sehe ich Becky auf der Tribüne klatschen und rufen:
"Los William, weiter William. Du schaffst es."
Ich reiße den Kopf nach vorne, überquere die Ziellinie. Siege.
Tom und ich straucheln mit letzter Kraft auf den Rasen, lassen uns fallen und keuchen. Tom streckt mir die Hand hin und jabst:
"Meine Güte, willst du mich umbringen, William. Gratuliere, zur Meisterschaft, Kumpel."

Ich stürze mit letzter Kraft in die Dünen zwischen die Kameraden, drehe mich auf den Rücken und starre keuchend in den rauchgeschwängerten Himmel. Neben mir greift ein Offizier meinen Arm und starrt auf mein Abzeichen.
"Sie sind von der Zweiundachtzigsten, wo ist denn der Rest von Ihrem Haufen? Wo haben Sie Ihre Waffe?" Als ich nur mit der Hand wedele, sieht er auf seine Karte, murmelt etwas vor sich hin. Dann starrt er mich an und sagt:
"Mann, Sie sind ja hier völlig falsch."

Ja, denke ich. Ich weiß.

Letzte Aktualisierung: 24.08.2016 - 19.54 Uhr
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