Ilona ist vierundsechzig Jahre alt. Seit dem elenden Sterben ihrer Mutter vor sechs Jahren macht sie sich Sorgen, ob sie – ebenso wie ihre Mutter und Großmutter – an Alzheimer und Parkinson erkranken wird. Mit ihrem Mann Michael kann sie darüber nicht sprechen, er verdrängt jedes Problem. Vielleicht hat sie die Krankheit sogar ihren beiden Töchtern vererbt? Wahrscheinlich ja.
Abend für Abend scannt sie alte Fotos ein, vergrößert und bearbeitet die Bilder sorgfältig, fügt in sehr großer Schrift Texte hinzu, gestaltet ihr Online-Fotoalbum. Nie zuvor hat sie die Frage so sehr bedrängt, woran sie sich erinnern will oder wird.
Die schöne junge Frau mit dem Säugling ist ihr etwas fremd: So verträumt sah Mama nie aus. Den blutjungen Papa erkennt sie an den abstehenden Ohren. Das Bild darf trotz einiger Bedenken bleiben. Viel wichtiger ist für sie das Kinderwagenfoto vor dem Bunker. An den Uropa mit der unter die Achselhöhle geklemmten hölzernen Gehhilfe, der dort mühsam Grünkohl zog, erinnert sie sich ganz genau. Sie riecht den behelfsmäßigen Ziegenstall neben dem Bunker. Auf der Ziege durfte sie ein Mal sogar „reiten“. Eine Reihe von Kaninchenställen gab es auch an der Bunkerwand. Streicheln und Füttern war erlaubt.
Das verwackelte Bild von der runden, kleinen Omi, die auf den Wallanlagen Ostereier versteckt. Klein-Ilona durfte morgens in ihr Bett kriechen und bekam Geschichten vom Jesulein erzählt. Omi hatte immer Zeit und Liebe, sie konnte zuhören, und sie kochte, was Ilona liebte: „Behmische Kiche, weißt du, ist die beste von der Welt.“ Das verwackelte Bild ist wichtig. Die Omi war so warm und weich, und sie roch so gut.
Plötzlich ist der Anblick der hinfälligen Großmutter, mit dem Gürtel des Bademantels am Sessel fixiert, schmerzhaft nah. Die hilflosen Versuche, zu sprechen, die flehenden Augen. Alle zwei Tage besuchte Mama die Omi im Heim und versuchte vergeblich, sie mit einem Brei aus pürierten Früchten, geschlagener Sahne, Haferflocken und Vanillezucker bei Kräften zu halten. Ilona hat nur drei Wochen die Mama vertreten. Omis wortloses Flehen hat sich ihr tief in die Seele gebrannt.
Alles begann mit den ungerechtfertigten Vorwürfen, die Nachbarin habe ihr diesen oder jenen Ring gestohlen. Manchmal lag er in der Zuckerschiebe, manchmal in einer mit Watte gefüllten Niveacremedose, manchmal auch nur neben ihrem Sessel. Die Finger wurden altersbedingt dünner, so wie die Haut fein wurde wie Seidenpapier. Sie neigte dazu, Schmuck zu verstecken, vergaß aber später, dass und wo sie ihn versteckt hatte. Bei der Haushaltsauflösung waren Ilona und ihre Mutter deswegen besonders aufmerksam.
An ein Weihnachtsfest erinnert sich Ilona ganz besonders: Vati trug die Omi auf seinen Armen ins Haus, sie schrie entsetzlich um Hilfe: „Gestapo!“ Kaum saß sie, mit vielen Kissen gestützt, im Sessel, war sie ganz friedlich und freute sich über den Weihnachtsbaum. Sie mochte es, zart gestreichelt zu werden.
„Wie sehr mag der Glaube an das Jesulein einer Demenzkranken helfen“, fragt sich Ilona. Omi liebte ihr Jesuskind.
„Weihnachtsfotos mit Baum und echten Kerzen einscannnen“, schreibt sie auf einen Zettel und streicht das überflüssige „n“.
Mama hatte miterlebt, dass die geliebten Arien von Richard Tauber, Benjamino Gigli und Maria Tebaldi zuletzt kein Lächeln mehr auf Omis Gesicht zaubern konnten. So versuchte sie mit einer anderen Strategie, dem eigenen Verfall Einhalt zu gebieten: Jeden Tag lernte sie verbissen englische Vokabeln, trieb Gymnastik.
Wie Omi hielt sie sehr auf ihr Äußeres. Friseurtermine strukturierten ihr Leben. Nur an den Einkaufszetteln bemerkte Ilona, dass irgendetwas nicht stimmte: „Zuker“ stand da oder „Buter“ oder „Bot“. Manches war gar nicht lesbar. Die krakelige Schrift führte sie auf das Alter zurück. Das wenige benutzte Geschirr war stets abgewaschen. Überall standen Gläser mit Wasser – sie war sicher, dass ihre Mutter genügend Flüssigkeit zu sich nahm.
Irgendwann fiel ihr auf, dass im Papierkorb viele alte Fotos lagen. „Die Leute kenne ich nicht“, bekam sie zur Antwort, sie fischte die Fotos heraus und gab sich zufrieden. Dass Mama immer dieselben Sachen erzählte und fragte, bemerkte Ilona nur beiläufig. Nachdem aber eine der Herdplatten mit einem leeren Topf darauf rot glühte, war die Entscheidung klar: Betreutes Wohnen, ganz in der Nähe vom Friseur. Das Appartement war teuer, aber Mama fühlte sich wohl. Die Heimleitung nach kurzer Zeit nicht mehr:
„Wir können Ihre Mutter nicht vierundzwanzig Stunden am Tag kontrollieren. Sie überquert bei Rot die Ampel. Sie hat den Tag-Nacht-Rhythmus verloren, läuft unbekleidet durchs Haus. Wir sind kein Heim für Demenzerkrankte, sondern betreutes Wohnen. Die ambulante Pflege übernimmt nur leichte Fälle.“
Mit viel MĂĽhe fanden Ilona und Michael ein passendes Heim, leider weit weg von Mamas Friseur.
„Ausgang wird sie sowieso nicht bekommen. Die Krankheit ist viel zu weit fortgeschritten“, wurde ihnen mitgeteilt. „Ein Mal pro Woche kommt eine Ehrenamtliche mit Therapiehunden, es wird täglich musiziert, es gibt Reaktionsgymnastik, Ihre Mutter kann weite Strecken im Park laufen. Demenzerkrankte brauchen viel Bewegung. Sie kann, wenn sie will, sogar beim Kochen helfen, viele unserer Damen machen das gern. Für die „Berufstätigen“ haben wir extra eine Bushaltestelle im Park gebaut. Sie könnte auch beim Hühnerfüttern helfen. Sogar ein kleines Hochbeet könnte Ihre Mutter pflegen.“
„Mama liebt Hunde und Gartenarbeit. Kochen überhaupt nicht“, buchten sie den extrem teuren Platz. Eigene Möbel waren (bis auf das Bett) selbstverständlich, sogar einen verblassten Perserteppich durfte Mama mitbringen, sonst wegen Stolpergefahr verboten. Auch ihre eigene feine Bettwäsche durfte sie weiterhin benutzen, allerdings – trotz der Windeln - mit einem Gummilaken darunter.
Mama hasste das Heim vom ersten Tag an, obwohl das Personal versuchte, auf jede ihrer Befindlichkeiten einzugehen. Sie baute rasant ab, wusste nicht einmal mehr, was sie auf der Toilette machen sollte, wenn sie Druck verspürte. Ratlos saß sie auf der Brille und starrte Ilona an. Manchmal kamen ein paar Tropfen, manchmal nicht. Druck war fast immer, auch bei den anderen Damen. Das früher so geliebte, wöchentliche Bad verabscheute sie und schrie: „Nicht ins Schlachthaus!“ Es sah wirklich so aus: Edelstahl und Weiß und Hebevorrichtungen. Da halfen auch nicht die teuren Badezusätze, die Ilona und ihre Schwester Anna für sie besorgt hatten.
Sie hatte sich selbst aufgegeben, wehrte sich noch, das spürte Ilona genau: Mama schlug und trat sogar nach den Hunden! Auch die anderen Bewohner wurden von ihr getreten und bespuckt. Stets mit einem besonders hinterhältig-schlauen Gesichtsausdruck.
„Mama war immer eine Dame und hat großen Wert auf gutes Benehmen gelegt“, entschuldigte sich Ilona mehrfach bei der Heimleitung.
„Ich glaube, sie will „aus der Schule“ geworfen werden“, antwortete man ihr verständnisvoll.
„Das kann stimmen, ich weiß, dass sie als etwa neunjähriges Mädchen – nach dem Tod ihres Vaters 1939 – sehr aufsässig war. Omi hatte große Probleme mit ihr.“
Mama hörte auf, zu essen, spuckte alles aus. Mit niemandem mochte sie Kontakt haben, nur Ilonas Besuche freuten sie.
„Warum besucht mich Anne nie?“, beklagte sie sich, dabei war Ilona ihrer Schwester vor wenigen Minuten auf dem Flur begegnet.
Kurze Zeit später erklärte sie kategorisch, sie habe keine Kinder und auch nie geheiratet. Trotzdem aber, da ist sich Ilona sicher, hat Mama sie auf irgendeine Weise erkannt oder zumindest akzeptiert. Sie hat sie nie angespuckt und auch nie mit diesem besonderen Gesichtsausdruck angesehen. Die tiefe Bindung überlebte in irgendeinem geheimen Winkel. „Du bist von meinem Blut“, hatte Mama vor vielen Jahren einmal gesagt.
Dauerhaft bettlägerig, flehte sie wort- und hilflos, dass Ilona ihr etwas geben solle, damit das Elend ein Ende hat. Das gleiche Grauen und Bitten wie in Omis Augen. Ilona leidet immer noch darunter, dass sie ihr nicht helfen durfte. Angesichts des Todes gab es keine Demenz mehr, nur nackte Angst. Einen einzigen Wunsch hatte Mama, und den durfte Ilona nicht erfüllen.
Ihr Sterben dauerte Stunden und Stunden. Trotz Patientenverfügung, die höhere Morphingaben erlaubt hätten. „Der Arzt war zu jung, der traute sich nicht“, erklärte Michael das unbegreifliche Verhalten. „Hätte der Alte Dienst gehabt, wäre das nicht so passiert. Der hat nichts mehr zu befürchten.“
Jeden Morgen wacht Ilona mit diesen Erinnerungen auf und macht sich Sorgen. Ihr ist jetzt schon peinlich, dass sie spucken und treten könnte. Dass sie ihre eigenen Erinnerungen als fremd empfinden, Fotos zerkritzeln und wegwerfen könnte. Michael und die beiden Mädchen ... Ein ganzes Leben – vergessen, ungelebt.
Mama wollte sich selbst töten, hatte viele Jahre zuvor, noch im eigenen Haus, Tabletten gesammelt. Dann wusste sie nicht mehr, wo und wofür. Ilona hatte die Teetasse mit den Tabletten bei der Haushaltsauflösung gefunden, verstand erst später, was sie gefunden hatte.
Jede Unsicherheit ihrer Handschrift beunruhigt Ilona. Sie ist noch so jung und vergisst schon Buchstaben auf dem Einkaufszettel, schreibt ihn neu.
Oft krakelt sie auch, dabei liebt sie ihre schöne Handschrift.
An viele Gespräche kann sie sich nicht erinnern.
„Vermutlich Laberfasel“, beruhigt sie sich oberflächlich.
Gestern hätte sie beinahe den Geschirrspülmaschinen-Tab in die Hühnersuppe geworfen.
Niemand bemerkt diese Kleinigkeiten, nur sie. Die Kontrolle des Alltäglichen strengt sie sehr an.
„Wer oder was bin ich ohne Erinnerungen?“, scannt Ilona das nächste Foto ein und hat Angst, dass sie vergisst, warum sie das macht.
Letzte Aktualisierung: 15.08.2016 - 09.41 Uhr Dieser Text enthält 9822 Zeichen.