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Erinnerungen | August 2016

Zurück in die Gegenwart
von Eva Fischer

Der ICE rast mit über zweihundert Stundenkilometern vorwärts, doch ich sitze rückwärts, so dass mir ganz schwindelig wird, als die Landschaft an mir vorbeibraust. Städte, Wiesen, Felder, Straßen, scheinbar ohne Anfang und Ende, der Rhein, felsiges Gebirge, kleine Ortschaften mit Zwiebelkirchtürmen umgeben von grünen Auen.
In sechs Stunden habe ich die Stadt erreicht, die sich lange Zeit nicht aus meinen Träumen vertreiben ließ.

Ich schaue den Passanten ins Gesicht und suche Henrike, deren Vater Ölbilder malte, die wir uns ansehen durften, wenn ihr Vater nicht zu Hause war, und auf denen ich nichts erkennen konnte außer bunten Farbkleksen. Interessanter waren für mich ihre Micky-Maus-Hefte, die sie sich als einzige leisten konnte. Henrike wollte mit mir spielen, doch ich wollte lesen. So durfte ich mir die kostbaren Micky-Maus-Hefte ausleihen.

Ich halte Ausschau nach Susi, die Intelligenteste und Molligste in unserer Klasse, die immer schwitzte und gutmütig lachte, wobei ihre schwarzen Locken am Kopf lustig wackelten. Was mag aus ihr geworden sein?

Ich möchte Herbert finden, der einen Kopf kleiner war als ich, obwohl wir gleich alt waren. Im Winter bewarfen wir uns mit Schneebällen, im Sommer suchten wir uns beim Völkerball abzutreffen. Wenn uns keiner sah, stand er mir als Vater für mein Puppenspiel zur Verfügung.

Und Tanjo, meine erste große Liebe, mit rotbraunen Haaren und grünen Augen! Er beschützte mich wie ein großer Bruder. Beide waren wir Einzelkinder, die Ausnahme in dem kinderreichen Mietshaus. Ich würde ihn eines Tages heiraten, da war ich mir sicher. Ob er sich überhaupt noch an mich erinnert?

Und natürlich Maria, meine beste Freundin, neben der ich vier Jahre auf der Schulbank saß. Wir hatten uns am Einschulungstag kennengelernt, als wir uns um unsere Mäntel stritten. Beide trugen wir rote Mäntel mit goldenen Knöpfen, die unsere Mütter vermutlich im gleichen Kaufhaus erstanden hatten. Ab dann klebten wir wie siamesische Zwillinge aneinander, spielten uns durch unsere täglich wechselnden Traumwelten.

Ich schaue in die Gesichter der Sechzigjährigen und habe doch die Bilder von Zehnjährigen im Kopf. Ein hoffnungsloses Unterfangen, sie hier und jetzt wiederzufinden. Vor 50 Jahren habe ich diese Stadt verlassen und meine ehemaligen Freunde längst aus den Augen verloren.

Die Orte haben sich zum Glück nicht fortbewegt.
Das mehrstöckige Mietshaus, in dem ich einst wohnte, hat einen neuen Anstrich bekommen. Vermutlich hat man schicke Eigentumswohnungen daraus gemacht, denke ich, als ein dicker Mercedes das Tor passiert.
Die Schule ist ebenfalls neu gestrichen in Altrosa, so wie einst. Auf dem Messingschild steht nicht mehr Volksschule, sondern Grundschule. „Wos! Zu die Saupreißn wuist!“ klingen die Worte meiner ehemaligen Lehrerin im Ohr.
Selbst die Eisdiele gegenüber ist noch an der gleichen Stelle, auch wenn die Kugel nicht mehr 10 Pfennig kostet, sondern einen Euro.
Der alte Nord- Friedhof, vor dem einst die Mannequins posierten, im Sommer im Pelz, im Winter im Bikini, hat höhere Bäume bekommen und üppigeres Grün. Ein Vater schiebt einen Kinderwagen durch die schattige Allee.

Hier hörte meine Welt als Kind auf, doch die Straße geht weiter. Noch bin ich nicht an meinem Ziel angelangt.

Auf dem Schild neben dem Klingelkopf steht mein Familienname. Ich drücke und höre eine vertraute Stimme aus der Sprechanlage. Es ertönt ein Summton und ich kann die Tür öffnen. Ein Fahrstuhl bringt mich in die sechste Etage.
Mein Sohn umarmt mich. „Das freut mich, dass du mich besuchen kommst“. Stolz zeigt er mir seine neue Wohnung. Ich trete hinaus auf den Balkon und entdecke die Kirchtürme, wo ich einst zur Kommunion gegangen bin.
„Nun erzähl schon, wie gefällt es dir hier in München? Klappt es mit der Arbeit? Hast du nette Kollegen?“
Und dann erzählt er mit leuchtenden Augen. Er wird gar nicht fertig mit Erzählen und ich werde nicht fertig mit Fragen. Ich höre bereits einen leichten bayrischen Akzent heraus.
„Verlier das Rheinländische nicht!“, mahne ich.
„Na! Was glabstn du?“ Wir lachen.

Am nächsten Tag zeigt er mir sein Viertel. Biosupermärkte, Geschäfte mit Vintage Möbeln, Restaurants mit Spezialitäten rund um den Globus, schmale Straßen mit alten Villen und knorrigen Bäumen, breite Straßen, unter denen die U-Bahn dahinrauscht, umsäumt von mehrstöckigen, farbigen Häusern, Parks, die ich nie gesehen habe, aus den Boden gestampfte Einkaufszentren...
Alles ist neu und aufregend für mich. Ich folge meinem Sohn neugierig wie ein Kind.

Die alten Kindheitsfotos wurden ans Licht geholt. Nun beginnen sie allmählich zu verblassen. Mit dem Smartphone mache ich neue Fotos.

Letzte Aktualisierung: 04.08.2016 - 14.41 Uhr
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