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Erinnerungen | August 2016

Das Haus in der Mühlenstraße – Oder: Mein 120. Geburtstag
von Raphaël Gensert

Ich bin schon lange hier, weit über hundert Jahre. Damit habe ich mehr gesehen und erlebt als so mancher, der hier wohnte. Schaue ich an mir herunter, so muß ich Defizite beklagen und zur Renovierung mahnen. Doch dazu wird es auf absehbare Zeit wohl nicht kommen, denn der Eigentümer geizt.

Fasse ich jeweils 30 Jahre zusammen, lande ich am Anfang beim 3. April 1895. Zwar ist der lange her, doch kann ich mich gut an diesen Mittwoch erinnern. Es war der Tag, an dem die ersten Bewohner hier einzogen in die Mühlenstraße 18½, Parterre. Der Umzug der Familie war nötig geworden, weil der Vater in den hiesigen Polizeibezirk versetzt wurde. Er war ein rechter Haudegen, der Strenge walten ließ; zugleich war er jedoch ein fürsorglicher Vater. Sie hatten drei Kinder. Das älteste war Luise, damals 17. Die Mutter legte großen Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild ihrer Familie, und so war es für Luise eine Selbstverständlichkeit, das Elternhaus stets im Kleid und mit akkurat zurückgekämmtem Haar und Zöpfen zu verlassen. Auf Luises Schultern lastete nicht nur die Bestellung der Wohnung, sondern ebenso die Versorgung ihrer beiden Geschwister, die ihr so manchen Nerv rauben konnten. Für die Haushaltsschule blieb dieser Tage wenig Zeit. Am ersten Einzugstag noch lag alles durcheinander, eine rechte Ordnung war nicht zu erkennen. Doch bemühte sich die Familie um eine wohlige Herberge, was ihr durchaus gelang.

30 Jahre später, 1925, inmitten der Weimarer Republik, stand ich noch. Ich hatte den Ersten Weltkrieg überlebt, wenn ich auch allerart Blessuren davongetragen hatte. Leider hatte der Krieg manchen Schaden angerichtet. So verschlang er Luises Vater und Bruder und brachte sie nie zurück. Einige Häuser hier nebenan wurden im Krieg völlig zerstört und nicht wieder neu errichtet. So hat sich die Zählung verschoben. Aus meiner alten Nummer 18½ war 14 geworden. Teile von mir mußten ganz neu oder zumindest umgebaut werden. Ich bekam ein neues Dach, eine neue Eingangstür, ein anderes Entrée und als eines der ersten Häuser in der Mühlenstraße einen Ölheizkessel. Der bedeutete allerlei Comfort für die Bewohner, konnten sie doch ihre Kohleöfen entfernen. Mit Elektrizität ließen sich die Stadtväter Zeit. So gab es hier 1925 noch kein elektrisches Licht, und ein steter Vorrat an Kerzen und Petroleum war angemessen.
Luises jüngere Schwester ging als junge Frau nach Coblenz. Was aus ihr wurde, vermag ich nicht zu sagen. Luise hatte Carl geheiratet, der ebenfalls hier einzog. Den Kachelofen in der Stube hatten Luise und Carl beibehalten. Kinder waren ihnen nicht vergönnt. Anfang der 20er Jahre starb Luises Mutter, so daß Luise und Carl fortan allein hier lebten. Luise hatte eine Anstellung in einer Cigarettenhandlung bekommen und konnte so einiges zum Haushalt beitragen. Es waren aufregende, wenn auch anstrengende Jahre. Die Droschken wurden weniger, und wer es sich leisten konnte, fuhr ein Auto. Hier, in der Mühlenstraße, konnte es keiner. Im Garten hinter den Stuben bauten sie Kartoffeln an und Rüben, ein Nachbar hielt Kaninchen und Hühner. Das letzte von ihnen gackerte im Frühjahr ’49.

Weitere 30 Jahre später, 1955. Niemand fuhr mehr mit Droschken. Das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete eine erneute Umbenennung der Straße. Aus der Mühlenstraße war einst die Joseph-Goebbels-Straße geworden, die man nach Kriegsende harmlos in Birkenweg umbenannte, obwohl hier gar keine Birken stehen. Meine 14 als Hausnummer wurde übernommen. So wurde nach 50 Jahren aus der Mühlenstraße 18½ der Birkenweg 14. Luise war mittlerweile 77, eine alte Frau mit Rückenleiden. Carl starb ein Jahr zuvor an einer Lungenentzündung, von der er sich nicht erholte. Luise beklagte oft den zunehmenden Verkehr, womit sie nicht ganz Unrecht hatte. 1955 bekamen alle Häuser hier im Viertel, so auch ich, neue Wasserleitungen und Badezimmer mit Toilette. Das Holzhäusel im Garten wich einem kleinen Pavillon.
Die Post verlegte Kabel für Fernsprecher, doch Luise war der Ansicht, ein solcher sei Teufelswerk, und man bräuchte keinen Fernsprecher. Dafür trennte sie sich von dem alten Kachelofen, ließ die Fußböden erneuern und spendierte der Küche einen Elektroherd mit Backrohr. Luise war recht stolz darauf! Sie hatte sich modern eingerichtet mit Tulpenlampen und Nierentischen, sehr apart. Luise wollte ihren Ruhestand genießen und war sich sicher, auf ein erfülltes Leben zurückblicken zu können. Sie starb 1957 kurz vor ihrem 80. Geburtstag. Sie lebte 62 Jahre lang in dieser Wohnung – so lang wie sonst niemand.

Nach Luise gab es mehrfache Mieterwechsel. Zu Beginn richtete ein Steuerberater sein Kontor ein, blieb aber nur kurz. In den 60er Jahren lebte hier eine Kleinfamilie für ein paar Jahre, doch die Eltern schlugen sich nur. Nach ihrem Auszug stand die Wohnung zwei Jahre leer, in den 70ern kam eine wilde Wohngemeinschaft aus Studenten. Als im Sommer 1985 Doktor Kaiser, ein junger Zahnarzt, die Wohnung kaufte, ahnte ich noch nicht, was auf mich zukommen würde. Er bekam die Wohnung deshalb so billig, weil die drei Jahre vor seinem Einzug ein Irrer hier lebte. Der war dem Wahn verfallen und hatte sämtliche Wände mit Tesafilm beklebt aus Angst vor angeblichen Röntgenstrahlen vom gegenüberliegenden Hause. Er war ein rechter Narr, verstarb unter ungeklärten Umständen und blieb wochenlang unentdeckt. Der Leichengeruch zog in jeden Winkel, so daß dem Zahnarzt ein besonderer Kaufpreis eingeräumt wurde. Er kaufte die Wohnung und veränderte sie bis zur Unkenntlichkeit. So riß er alle Böden und einige Wände raus, zog neue ein, erneuerte Badezimmer und Fenster und stellte in die Stube einen großen Farbfernseher und einen Schallplattenspieler. Die Weiber reihten sich, er ließ nichts anbrennen und feierte vortreffliche Orgien. Schnell hatte ich den Überblick verloren. Doch gingen zu dieser Zeit mehr Fremde hier ein und aus als die ganzen Jahre seit meinem Bestehen! Dann und wann beklagte sich Doktor Kaiser über mangelnden Parkraum für seinen Ford Capri. Tatsächlich hatte der Straßenverkehr so zugenommen, daß man früh nach Hause kommen mußte, um noch einen Platz zu erlangen. Wo sich früher zwei Droschken bequem begegnen konnten, reihten sich nun zahllose Autos aneinander. Die Pflastersteine hatten sie schon in den 60er Jahren mit schwarzem Asphalt überzogen. An manchen Stellen, an denen der sich gelöst hatte, sah man die alten Steine hindurch, was einem einen Eindruck davon vermitteln konnte, wie sämtliche Straßen der Stadt einmal aussahen.

Nun haben wir den 30. November 2015, also wieder 30 Jahre später. Damit zähle ich stolze 120 Lenze und habe eine ganze Menge erlebt. Doktor Kaiser ist schon 1991 ausgezogen, besitzt die Wohnung aber bis heute und vermietet sie zu horrenden Preisen. Mittlerweile wohnt eine alleinerziehende Frau mit zwei Kindern in der Parterre-Wohnung. Sie klagt nicht über die zugeparkte Straße, denn sie kann sich kein Auto leisten. Ihre Entscheidung zwischen Auto und Wohnung traf auf die Wohnung. Ihre Klagen betreffen vielmehr den Zahnarzt, den sie für einen geilen Nimmersatt hält und damit recht hat.

So sind seit meinem Bau viele Jahre vergangen. Vieles habe ich erlebt, und nicht alles war gut. Ich habe miterlebt, wie Menschen gekommen und gegangen sind, wie sie sich gestritten und geliebt, wie sie sich eingerichtet und gelebt haben. Sie haben sich verändert. Sie kleideten sich anders, sie sprachen anders, zu jeder Zeit waren ihnen andere Dinge wichtig. Heute verliert niemand einen Gedanken an eine Toilette im Badezimmer, über fließendes Wasser, eine Zentralheizung oder über elektrisches Licht. Einen Fernsprecher verteufelt heute ebenso niemand mehr; sein Vorhandensein ist eine Selbstverständlichkeit, wenn er auch auf die Größe einer halben Tafel Schokolade geschrumpft ist. Ich selbst habe mich in diesen vielen Jahren verändert. Durch An- und Umbauten, durch neue Fenster, Wände, Leitungen und Einrichtungen. Die Straße hat sich verändert, wie sich auch die ganze Stadt verändert hat.

Nun brennen 120 Kerzen auf meinem Kuchen, und ich wünsche mir, daß noch so manche dazukommt und ich die weitere Entfaltung von mir selbst und meinen Bewohnern weiterhin mit Spannung verfolgen kann.

Wenn auch ich eines Tages dem Erdboden gleichgemacht werde, kann ich, wie einst Luise, auf ein langes und erfülltes Leben zurückblicken und mich freuen, so vielen verschiedenen Menschen ein Obdach gegeben zu haben.

Letzte Aktualisierung: 22.08.2016 - 19.43 Uhr
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