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Erinnerungen | August 2016

Erinnerungen
von Paula Grünewald

„Es gibt drei gute Dinge an Demenz: Erstens, man lernt jeden Tag neue Leute kennen, zweitens, man kann an Ostern seine Eier selber verstecken und drittens … Drittens habe ich vergessen“
Ich stelle mir die Erinnerungen wie schmale, leicht zerbrechliche Glasscheiben vor auf die Bilder gemalt sind, von denen die Details mit der Zeit langsam verblassen. Doch was sie alle von Bildern unterscheidet ist, dass niemals alle Details vorhanden sind. Da fehlt zum Beispiel die Farbe der Wand im Hintergrund oder die Marke des Schuhs, die einer der zehn Personen im Hintergrund trug. Was Erinnerungen noch von Bildern unterscheidet ist, dass sie nach einer Zeit verschwinden oder verblassen. Ich stelle mir vor, dass das Erleben, das Malen der Bilder ist und je kräftiger die Farbe beim Aufmalen ist, desto länger dauert es bis ein Detail verblasst ist und vielleicht wird immer etwas von dem Bild übrigbleiben. Erinnerungen sind einzigartig und einmalig. Ist eine Erinnerung einmal vergessen, so kann ich sie nicht wieder herstellen. Es gibt auch keinen zweiten Menschen, der dieselbe Erinnerung in seinem Kopf hat, auch wenn sich zwei Menschen an dasselbe Ereignis erinnern können, so sind die Erinnerungen niemals identisch. Das merke ich, wenn ich mich mit jemandem über etwas Erlebtes austausche und vergleiche was die andere Person weiß, im Gegensatz zu dem was ich weiß. Da kann es passieren, dass wir zwar über das gleiche sprechen, es sich aber anhört, als würden wir über zwei voneinander unabhängige Ereignisse sprechen. Das liegt auch daran, dass nur meine Augen, etwas aus dem Blickwinkel sehen, aus dem ich es sehe.
Ich lege oft etwas, was ich kurz nicht mehr brauche, irgendwo hin, und dann weiß ich nicht mehr, wo ich es hingelegt habe. Ist es in meinem Zimmer? Ich könnte schwören, ich hätte es auf meinen Schreibtisch gelegt, aber da ist es nicht! Später finde ich es dann irgendwo anders und frage mich wie es dahin gekommen ist. Wieso kann ich mich nicht mehr daran erinnern? Und wieso kann ich mich nicht mehr an das erinnern, was ich als kleines Kind erlebt habe. Oder wieso habe ich meine Geburt vergessen? Das war doch für mich ein sehr wichtiges Erlebnis oder war es etwa nicht wichtig genug um festgehalten zu werden? Dann frage ich mich wie viel Zeit meines Lebens weiß ich noch? Käme da überhaupt ein ganzes Jahr zusammen? Ich fände es schrecklich, wenn ich wüsste, dass alles was ich gerade erlebe umsonst ist, weil ich es sowieso später einmal vergessen werde. Da bin ich doch froh, dass ich immer denke ich müsste mir etwas nicht aufschreiben, weil ich es doch gar nicht vergessen kann. Ich glaube ich fände es schrecklich, wenn ich immer wüsste, dass es eh alles umsonst ist.
Das was ich als erstes vergesse sind meine Gedanken. Sie vergesse ich noch vor der Tat an sich. Ich weiß höchstens noch in etwa wie ich etwas fand oder ob ich dabei ein gutes Gefühl hatte, aber mehr auch nicht. Manchmal weiß ich gar nichts mehr.
Ich habe einmal mit drei meiner Freundinnen über „früher“ gesprochen, also den Anfang unserer Schulzeit. Wir haben sehr viel gelacht und je mehr wir redeten, desto mehr Erinnerungen kamen und eine große Welle an Glück überschwemmte mich, ich konnte einfach nicht glauben, dass diese Zeit vorbei ist, obwohl ich jetzt auch sehr zufrieden bin, bekomme ich doch wahnsinnige Sehnsucht nach der Grundschulzeit und Kindergarten. Ich könnte weinen und lachen zugleich, wenn ich daran denke, weil es so lustige und süße Geschichten gibt, an die ich mich erinnern kann, aber ich weiß auch anhand der Erzählungen der anderen von Ereignissen an die ich mich nicht mehr erinnern kann, das da vieles ist was ich nicht mehr weiß. Auch kann ich nicht genau sagen, was ich in bestimmten Situationen gedacht habe und das finde ich sehr schade und bedauere es wirklich.
Ich denke, dass wichtigste um sich zu erinnern ist, das Erlebte aufzuschreiben und somit festzuhalten. Ich schreibe Tagebuch, aber das ist für mich alles andere als einfach. Das Aufschreiben ist eben eine Möglichkeit Gedanken festzuhalten, was sehr schön ist und letztendlich strebe ich darauf hin meine Gedanken nie zu vergessen, aber dennoch fällt es mir viel schwerer meine Gedanken und Gefühle zu einer Sache aufzuschreiben, als das Ereignis selbst. Denn etwas für immer festzuhalten heißt auch immer wieder und jederzeit damit konfrontiert werden zu können und zu müssen. Nämlich jedes Mal wenn ich mir später einmal mein Tagebuch durchlese. Ich laufe sogar Gefahr von mir selber für meine eigenen Gedanken, die mir momentan unglaublich wichtig und ernst sind, ausgelacht zu werden! Darum vermeide ich es meine Gedanken und auch meine Gefühle aufzuschreiben. Das ist wie ein unlösbarer Code für mein Geschriebenes mit dem keiner außer mir etwas anfangen kann. Denn ich wenn dieses Ereignis lese, sehe viel mehr Bilder als alle anderen je sehen können. Insofern ist es nicht nur ein Verlust, dass ich auch in den Büchern, die ich komplett für mich allein und für mich privat, nicht alles offen darlege. Ich habe so meine eigenen, kleinen oder großen Geheimnisse, die ich eventuell sogar vor mir selber geheim halten kann, wenn ich sie einmal vergessen habe.

Letzte Aktualisierung: 21.08.2016 - 11.16 Uhr
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