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Familienbande | September 2016

Das gibt es schließlich nur in schlechten Filmen
von Anne Zeisig

“Du kommst mit zu Tantchens Geburtstag! SCHLIEßLICH bist Du ihr einziger Neffe, Kinder hat sie ja nicht.” ‘O-Ton’ meiner Frau Sabine.
Ich habe die gleiche Höckernase wie Tante Traudel, aber mehr verbindet uns nicht. Sie prahlt stets damit, wieviel Länder sie in ihrem Leben bereist hat, weil sie international ‘in der Kundenbetreuung’ als Hostess auf Messen tätig war.
In Wirklichkeit hat Tantchen hierzulande sämtliche Hotelbetten kennengelernt, weil sie den Geschäftsleuten zu Diensten war. Aber immerhin hat sie es damit zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht, wenn man einen Winkelbungalow Baujahr 1970 als solchen einstuft.
“Und ihr Schmuck!”, meint Sabine und hofiert sie als reichte Erbtante.
“Kinder kosten SCHLIEßLICH ein Vermögen”, flötet Sabine mit einem Seitenblick auf das Foto unserer Tochter.
Vanessa ist derzeit eine permanentmaulende Pubertierende mit langen Armen, kurzen Beinen, strohigen Haarzotteln auf dem Kopf und im Hirn auch nur Stroh. Ihr Gedächtnis speichert ausschließlich teure Markenlabels ab. Für den Rest hat sie den Handyspeicher.

Gleich würde ich mir wieder Tantchens Leier anhören müssen:
“Ich war immer viel auf den Beinen. Messehallen sind weitläufig. Dort auf Stöckeln herumstolzieren, war kein Zuckerschlecken. Aber von nichts kommt nichts.”
“Traudel ist Edelhostess”, bekräftigte meine Mutter stets die Schilderungen ihrer zehn Jahre jüngeren Schwester. “Sie übersetzt auch. Französisch.”
Französisch. Klar.
Jeder aus unserem Dorf wusste, dass Traudel eine Nutte ist, hatten doch auch der Huberbauer und unser Bürgermeister ihr Vergnügen mit ihr, als sie zur Landwirtschaftsmesse in Augsburg waren.
Als Kind kriegt man jedes Getuschel mit.
Meine Eltern waren regelmäßige Kirchgänger.
Ich denke, sie wollten einfach nur zeigen, dass sie ehrbare gläubige Leute sind.
Nicht, dass ich Tantchen moralisch verurteile, aber sie nervt mich, ich konnte sie ‘nie riechen’. Kaum betrat Tante Traudel mein Elternhaus, war die Stimmung wie ausgewechselt, Mutter huschte nervös hin und her, bewirtete die ‘Dame aus der Stadt’ fürstlich und ließ dafür sogar den Kirchgang ausfallen.
Dann setzte Vater mich auf Tantes Schoß, und sie drückte mich an ihren drallen Busen des weit ausgeschnittenen Chiffonkleides. Es war gut, dass sie uns höchstens ein oder zweimal im Jahr besuchte.
“Tante hat den Popo ja vorne!”, habe ich einmal gekräht, ich muss sechs oder sieben Jahre gewesen sein.
Sofort bekam ich von meinem Vater eine Watschen und Tantchen meinte, er solle mich strenger ‘halten’, damit ich nicht ‘aus dem Ruder laufe’.
. . .

Jetzt sitze ich auf dem altrosa Samtsofa zwischen meiner Mutter und Tantchen. Mir wird übel von Traudels morbiden Geruch, der sich mit kaltem Schweiß und süßem Duftwasser vermischt hat. Diese Kombi stinkt wie Kloreiniger.
Meine Frau schleimt. “Traudel, dein Parfum duftet umwerfend! Prada?”
Tantchen lacht zustimmend und tätschelt meinen Oberschenkel. “Die Teufelin trägt Prada.”
Mutter entrüstet sich. “Teufelin! Ich bitte dich! Aber wenn du deine Spontanität meinst, stimme ich dir zu.”
Dass Schwestern so unterschiedlich sein können.
Meine Mutter, zeitlebens das graue Mäuschen an der Seite meines dominanten Vaters.
Nun schiebt sich Traudel eine Zigarre zwischen ihre grellrot geschminkten Lippen und bläst den Rauch über den Tisch.
Sabine hustet und fächelt mit den Händen den Qualm beiseite.
Meine Frau lacht gequält, steht auf und beschließt SCHLIEßLICH, Vanessa zu begleiten, die mit Tantchens Hundi Gassi gehen will.
Inzwischen massiert Tantchen meinen Oberschenkel. Ich fasse ihre Hand und legte sie auf ihren Schoß.
Jetzt stinkt es nach Mottenkugeln. Der Blusenausschnitt gewährt den Blick auf einen ausgetrockneten Busen, ihre Haut ist gegerbt von übermäßigen Sonnenbädern.
Vanessa hält das Schoßhündchen auf dem Arm und krault diese winzige Fehlzüchtung mit Inbrunst. “Der ist süüüüüß”, zirpt sie, stellt ihn hinunter und befestigt die Leine.
“Sei vorsichtig. Wenn ein laues Lüftchen weht, könnte er abheben”, bemerke ich grinsend.
“Eure Tochter ist tierlieb. Das gefällt mir.” Ein Lob aus Tantchens Mund!
Ich werfe Sabine die stumme Frage zu, “Seit-Wann-Ist-Vanessa-Tierlieb?”, als diese antwortet. “Das ist SCHLIEßLICH meine gute Erziehung. SCHLIEßLICH sind Tiere ja Mitgeschöpfe.”
Vanessa schießt einen Pfeil aus den blauen Augen in ihre Richtung. “Mama! Nun chill ma deine Basis!”
“Ja, ja”, seufzt meine Mutter, “es ist nicht leicht, ein Kind zu erziehen. Früher nicht und heute erst recht nicht, wo man sie verbal kaum versteht.”
Meine Frau und Vanessa verlassen mit Hundi das Haus.

Abermals tätschelt Tante meinen Oberschenkel.
Ich stehe auf, weil mir das unangenehm ist. “Ich brauche auch frische Luft.”
“Aber Junge!”, sie zieht mich hinunter. “Ich sehe dich so selten!”
“Und?”, wende ich mich meiner Mutter zu. “Macht dir das Surfen am PC immer noch so viel Spaß?”
Vor fünfzehn Jahren, kurz vor meiner Heirat, hatte meine Mutter ihr Herz für das Internet entdeckt.
Sie war frisch verwitwet, da war ich froh, dass sie eine Beschäftigung hatte.
Sie schüttelt den Kopf. “Ich gehe lieber spazieren.”
Traudel stöhnt hörbar auf. “Du hast ja auch keine Venenschwäche. Bis ich die Kompressionsstrümpfe angezogen habe, ist es abends. Aber du musstest ja auch nicht tagaus tagein auf hohen Hacken in Messehallen umherlaufen und Kunden betreuen.”
Meine Mutter wischt sich ihre Hände an der Serviette ab. “Hättest ja heiraten können”, flüstert sie kaum hörbar.
“Sei ruhig!”, fordert meine Tante sie forsch auf. “Man soll die Vergangenheit ruhen lassen!”
“Was soll denn ruhen?” Ich blicke interessiert von einer zur anderen. “Sie war zuerst hinter deinem Vater her”, säuselt Mutter mir ins Ohr, “aber er hatte nur Augen für mich.”
“Meine Schwester hat mit ihrer ‘Rühr-Mich-Nicht-An-Art’ deinen Vater um den Finger gewickelt.”
“Mein Hans-Georg zog halt das Solide vor.”
Zickenalarm?
“Sowas muss nach fast fünfzig Jahren wirklich kein Thema mehr sein”, gebe ich Tantchen ausnahmsweise recht. Gieße mir einen Wodka ein, der immer parat steht, weil das Tantes Medizin ‘gegen Venen’ ist. “Prost! Auf deinen Geburtstag!”


Tantchen greift nach meinem Glas und stürzt den Inhalt hinunter. “Sie hat damit angefangen. Ich nicht!”
“Traudel legt deinem Vater jeden Monat eine Rose auf das Grab”, sagt Mutter vorwurfsvoll.
“Aber es ist keine rote”, verteidigt sich Tante.
“Spazierengehen kann sie nicht, aber den Weg zum Friedhof schafft sie.”
Ob Traudel es mal mit meinem Vater getrieben hat?

In dem Augenblick bin ich erleichtert, als Vanessa weinend ins Wohnzimmer stürmt und sich an meine Brust wirft. “Er ha-hat si-hich losgerissen und dann kam dieser Laster um die Straßenecke!”
“WAS?” Tantchen springt hoch und fällt sofort wieder zurück in die Kissen. “Ist mein Hundi tot?”
Vanessa schüttelt den Kopf. “Mama ist mit der Tierambulanz gefahren. Ein Bein soll gebrochen sein.”
Traudel atmet schwer ein und aus. “Ich hätte ihn dir nicht anvertrauen sollen.”
Meine Kleine schüttelt sich weinend. Ich streiche über ihr Haar.
Plötzlich liegt auf der anderen Seite meiner Brust Tante Traudel und flennt auch. “Wenn Hundi stirbt, habe ich keinen Erben mehr!”
Meine Mutter jault auf. “Einen Hund als Erben? Du hast doch einen Sohn!”
Sie fällt mit einem lauten Kreischanfall rücklings in das Plüsch und hält sich die Hände vor das Gesicht. “Tut mir leid. Gott wird mich bestrafen!”
Vanessa und Tantchen rücken abrupt von mir ab.
Im Zimmer ist es mucksmäuschenstill.
Ich nehme Mutter die Hände von den Augen. “Traudel hat einen Sohn?”
Die Blicke zischen zwischen den Schwestern hin und her.
“Familiengeheimnis?” Ich gebe mich augenzwinkernd locker.
Tantchen zündet sich fahrig eine Zigarre an: “Du bist mein Sohn.” Und bläst mir den Qualm ins Gesicht.
Vanessa hüpft von meinem Schoß hinunter.
Meine Mutter stöhnt leise. “Aber Hans-Georg ist dein leiblicher Vater.”
Ich tippe auf meine Brust und zeige dann auf Tantchen. “Ich bin ihr -?”
Traudel hat sich schnell beruhigt und erklärt mir zwischen Hustenanfällen mit rauchiger Stimme, dass ihr unstetes Messeleben nichts für ein Kind gewesen wäre.
“Und deine Mutter hat vor eurer Heirat mit dem PC die Geburtsurkunde geändert, weil ich ja im Original eingetragen bin.”
Das Zimmer scheint luftleer zu sein.
“Wollten dich doch nicht vor den Kopf stoßen, so glücklich wie du und Sabine waren”, fügt sie an.
“Ihr habt mich zeitlebens belogen.” Meine Stimme hört sich seltsam fremd an.
“Gott sei mir gnädig, wirst immer mein Bub sein.”
“Sind Mama und du überhaupt mit einer gefälschten Urkunde rechtmäßig verheiratet?”, fragt Vanessa., “SCHLIEßLICH wäre ich dann ja unehelich.”
Das Vakuum im Raum erzeugt eine Enge in meiner Brust.

Ich ergreife hastig mein Sakko und laufe hinaus.


Version ZWEI

Letzte Aktualisierung: 13.09.2016 - 07.23 Uhr
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